DER STANDARD (A), 20. Dezember 2000

Kommentar

Rettet die Terroristen!

Die türkische Regierung geht mit der Armee gegen hungerstreikende Häftlinge vor

Gudrun Harrer

"Das Ziel dieser Operation ist, Menschenleben zu retten", sagte Justizminister Hikmet Sami Türk, um am Dienstag den Sturm der Armee auf zwanzig Gefängnisse in der Türkei zu rechtfertigen. Ministerpräsident Bülent Ecevit wurde eine Spur deutlicher: "Diese Operation soll Terroristen vor ihrem eigenen Terrorismus retten." Dutzende gegen eine Gefängnisreform hungerstreikende Häftlinge in türkischen Gefängnissen, lauter "Terroristen". Am Abend waren jedenfalls einige von ihnen tot, so viel ist sicher.

Die türkische Regierung befand sich in einem katastrophalen Dilemma - und hat katastrophal reagiert. Die Armeeaktion, über deren Verlauf am Dienstag viele Fragen unbeantwortet blieben, ist Ausdruck einer Hilflosigkeit, die sich in schlechter regionaler Tradition gewalttätig äußert. Gewalt auch diesmal als Ultima Ratio, nachdem vor wenigen Tagen eine parlamentarische Initiative zur Entspannung der Lage gescheitert war. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer hat am Freitag ein Gesetz ans Parlament zurückgeschickt - mit der Begründung, es sei "ungerecht" und entspreche nicht der Verfassung -, das auf einen Schlag rund 25.000 der 73.000 Häftlinge in türkischen Gefängnissen amnestiert hätte.

Nun gibt es eine gewisse präsidentielle Tradition in der Türkei, Amnestien zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Wer jedoch die Arbeit Sezers seit seiner Wahl im Mai beobachtet hat, weiß, dass der frühere Chef des Verfassungsgerichtshofes nicht nur die türkische Verfassung ernst nimmt, sondern als erster Präsident in der türkischen Geschichte auch nach demokratischen und rechtsstaatlichen Kriterien auszulegen versucht.

Das hat ihn längst auf Konfrontationskurs mit der Regierung gebracht, diesmal umso mehr, als sich seine Sicht, obwohl völlig anders formuliert, teilweise mit jener der nach Regierungsinterpretation ausschließlich "linksextremen" Hungerstreiker und ihrer Angehörigen deckt. Von der konzipierten Amnestie haben nämlich viele erwartet, dass sie, kurz gesagt, die Mafiosi auf freien Fuß setzen und die notorischen "Staatsfeinde" - und so einer ist man schnell in der Türkei - in den Gefängnissen belassen würde. Genauso wenig Vertrauen setzen die hungerstreikenden Häftlinge und ihre Familien, die demonstrierend auf die Straßen gegangen sind, in die Wohltaten der Gefängnisreform. Sie fürchten Übergriffe und Folter, wenn die Gefangenen in die vorgesehenen Einzelzellen verlegt werden.

Wobei man auch schon bei den echten Ursachen des türkischen Dilemmas wäre. Dass die türkische Regierung eine Gefängnisreform angegangen ist - wobei mit der Zellenverkleinerung sehr wohl zum Teil Kriterien des Europarates befolgt wurden -, kann man ihr schwerlich verübeln. Denn dass in Großraumgefängnissen die Brutalsten die Macht übernehmen und nicht nur die Wärter, sondern auch ihre Mitinsassen gefährden, ist bekannt; auch dass in der Türkei der Linksextremismus in völlig perversen Formen noch immer blüht und gedeiht.

Aber dass in einem Staat, wo Strafverfolgung, Rechtsprechung und Strafvollzug nicht rechtsstaatlichen Kriterien entsprechen, halbe und zweideutige Reformen nicht nur mit Freude aufgenommen werden, ist auch nicht gerade überraschend. Gefängnisse neu zu bauen, ohne andere grundsätzliche Probleme der türkischen Justiz zu lösen, heißt, das Pferd beim Schwanz aufzäumen.

Wie die Probleme aussehen, weiß jeder: Es beginnt bei der Gesetzeslage (Antiterrorgesetz) und der Praxis in türkischen Polizeistuben, geht über den Artikel 16 des Antiterrorgesetzes, der die Isolation der "Terroristen" vorsieht, bis zur Zahl und Ausbildung des Gefängnispersonals. Denjenigen, die sich in der Türkei für eine Demokratisierung und Etablierung des Rechtsstaates einsetzen, ist dies alles genauso bekannt wie den Beobachtern in der EU. Letztere, die mit der Türkei im Vorfeld des Gipfels von Nizza die "Beitrittspartnerschaft" besiegelten, werden mit der Aktion von Dienstag keine Freude haben.