Süddeutsche Zeitung, 20.12.2000 Bundestagsabgeordnete zu Besuch in Izmir Polit-Touristen auf Entdeckungstour In der türkischen Großstadt werden die Parlamentarier mit den Problemen von Zuwanderern aus West wie Ost konfrontiert / Von Christiane Schlötzer Izmir - Wie Zähne in einem schlechten Gebiss stehen die Häuserblocks am Fels, jeder Zahn zehn Stockwerke hoch. Darüber ist nur brauner Berg und blauer Himmel, darunter in der Tiefe glänzt die Bucht von Izmir in der Dezembersonne. Ein schöner Platz - wären da nicht die vielen kleinen Stummelzähne zwischen Berg und Meer, ein wild zusammengewürfeltes Häusergewirr mit Straßennamen, die keine Behörde vergeben würde. Che Guevara Sokak etwa. Hüseyin Saygili trägt einen gut geschnittenen Anzug, der nicht so recht hierher passt, zwischen die Männer mit den zerschlissenen Jeans und die Frauen mit den ausgetretenen Schuhen. Eine Frau fängt plötzlich an zu krakeelen, ganz nah an Saygilis Ohr. Dem ist das unangenehm, schließlich ist er hier, um deutschen Bundestagsabgeordneten "das in der Türkei einzigartige Beispiel einer einvernehmlichen Umsiedlung" von Slumbewohnern in legal errichtete "Genossenschaftshäuser" vorzuführen. "Niemals" werde sie ihr Haus verlassen, kreischt die Frau. Die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke zeigt Verständnis. Saygili verteidigt sein Werk. Die Frau habe keine Angst vor dem neuen Hochhaus, sie verlange dort sogar mehrere Wohnungen, weil sie drei Slumhäuser besitze. Gecekondu-Mafia nennen sie die hier, die mehrere illegale Häuser "über Nacht" errichtet haben und dann an noch ärmere Zuwanderer aus dem Osten vermieten. Die Verhältnisse sind also komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen - eine Erkenntnis, an die sich deutsche Parlamentarier auf Reisen gewöhnen müssen. Izmir, die drittgrößte Stadt der Türkei, eine boomende Metropole, ist auch Magnet für Migranten aus den kurdischen Gebieten im Osten. Sie ist üblicherweise kein Ort für Polit-Touristen. Die reisen nach Istanbul und Ankara oder nach Diyarbakir. Die Innenpolitiker des Bundestags aber haben Cem Özdemir in ihren Reihen, den deutschen Abgeordneten mit türkischen Eltern. Er will seinen Kollegen zeigen, dass sie abseits der bekannten politischen Trampelpfade mehr erfahren können als bei einem Arbeitsessen in Ankara. Deshalb sitzen sie dann auch einer Gruppe von Deutschlehrern gegenüber, die es mit Rückkehrer-Kindern zum Beispiel aus Berlin-Kreuzberg zu tun haben, von wo auch der SPD-Abgeordnete Eckhardt Barthel herkommt. Neuerdings erzählen diese Jugendlichen auffällig oft, dass sie froh seien, in die Türkei zu kommen, weil sie sich in Deutschland in einer Art Sandwich-Situation fühlten: einerseits ausgegrenzt von der deutschen Gesellschaft, andererseits abgestoßen von Jugendbanden aus dem eigenen Milieu. "Sie benützen das Wort Ghetto", sagt eine Lehrerin. Eine Pädagogin sagt: "Die, die kommen, sind Auswanderer aus Deutschland". Wer sich schwer anpasst, wird von den Mitschülern wegen seines "Deutschseins" gehänselt. "Das ist ja seitenverkehrt zu uns", staunt Barthel, der Abgeordnete aus Kreuzberg. Die Zahl der Rückkehrer nimmt allerdings stark ab. Die für sie errichteten Schulen dürfte es bald nicht mehr geben. Dennoch haben Privatleute in Izmir gerade den Grundstein für eine deutsch-türkische Grundschule gelegt. Cem Özdemir durfte in zwei Sprachen die Festrede halten. Das Schulgeld ist so hoch wie die Ambitionen der Gründer. Sie sehen in ihren bilingualen und bikulturellen Absolventen Modell-Bürger einer in die EU integrierten Türkei. Bis zum Abitur sind es aber auch in der Türkei mindestens elf Jahre - wenn die Zeugnisse ausreichen. Mustafa Selim Yasar könnte sich jede Privatschule leisten. Das Logo seiner Unternehmensgruppe ist in Izmir allgegenwärtig. Yasar gehört zu jenem aufgeklärten Teil der türkischen Wirtschaftselite, die sich eine Alternative zu einer europäisierten Türkei nicht mehr vorstellen will. Wenn die Parteien in der Türkei für die deutschen Politiker keine Partner seien, dann sollten die Abgeordneten aus der Bundesrepublik sich doch an die Handelskammern halten. Von den Vertretern des Deutsch-Türkischen Vereins für Wirtschaftsleute und Akademiker müssen sie sich die Parlamentarier übrigens fragen lassen, warum sie sich für den städtischen Slum interessierten und nicht für eines der neuen Einkaufszentren der Stadt. Özdemir, der seine zweite Heimat eigentlich ganz gut kennt, darf sich auch noch bei einer anderen Gelegenheit wundern. Er wird zu einer Diskussion in die Universität eingeladen. "Vor zwei Jahren hätten wir das noch nicht gemacht", sagt ein Begleiter. Politische Diskussionen an Universitäten sind seit dem Militärpusch von September 1980 immer noch ein ungewöhnliches Ereignis. Özdemir trifft auf Studenten, die kein Thema aussparen, von "dem toten Kind in Sebnitz" bis zur umstrittenen Häftlings-Amnestie in der Türkei. "Unsere Politiker sind sehr alt", sagt ein Student. "Wir wollen einen modernen Staat, der sich nicht isoliert", meint ein anderer. "Das macht mir Hoffnung", sagt Özdemir nach dem ungewöhnlichen Seminar. Später, als die deutschen Politiker Vertreter der Türkischen Menschenrechtsstiftung treffen, hören sie dann doch eher Gewohntes. Ihr Vorsitzender, der Arzt Veli Lök, gilt mittlerweile als international gefragter Spezialist für den Nachweis verdeckter Folterspuren. Anschauungsmaterial findet er immer noch genug. Noyan Özkan, der Vorsitzende der in Menschenrechtsfragen sensiblen Rechtsanwaltskammer von Izmir meint aber, "diese Probleme sind jetzt wenigstens allen in der Türkei bekannt". |