Neue Luzerner Zeitung (CH), 20.12.2000

Türkei: Gefängnisrevolte niedergeschlagen

Ankara wählte Weg der Gewalt

Mit dem Sturm auf Haftanstalten beendeten Sicherheitskräfte gestern brutal den Hungerstreik der Gefangenen. 18 Menschen kamen dabei ums Leben.

VON BIRGIT CERHA, NIKOSIA

«Sie können doch nicht erwarten, dass der Staat tatenlos zusieht, wie Menschen sterben», rief der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk gestern fragenden Journalisten entgegen. «Ich will den Familien, den Vätern und Müttern der Häftlinge diese Botschaft geben: Vertraut auf den Staat. Das Ziel dieser Operation war die Rettung eurer Kinder.»

Bewaffneter Widerstand und Tote

Mit diesen Worten begründete Türk, warum Sicherheitskräfte gestern Morgen zwanzig Gefängnisse in mehreren Teilen des Landes gestürmt hatten. Nach offiziellen Angaben kamen bei den Aktionen 15 Häftlinge und drei Polizisten um, während 899 hungerstreikende Häftlinge in Spitalbehandlung gebracht wurden. Einige der Häftlinge nehmen seit sechzig Tagen ausser Zuckerwasser keine Nahrung zu sich und befinden sich in unmittelbarer Lebensgefahr. In manchen Gefängnissen leisteten bewaffnete Häftlinge Widerstand. Die Sicherheitskräfte hatten sich in der Vergangenheit wiederholt derart brutaler Methoden bedient, um Ruhe in den alarmierend überfüllten Gefängnissen herzustellen. Im Vorjahr wurden so in der Haftanstalt Ulucanlar bei Ankara mindestens zehn Gefangene getötet.

Behandlung wider Willen

Die schwere Krise des türkischen Gefängnissystems ist damit aber noch lange nicht überwunden. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte erregte Menschenrechtsaktivisten und einen Teil der Bevölkerung. Die Polizei versuchte gestern, mit Stockschlägen eine Protestkundgebung in Istanbul zu zerstreuen. Unzählige Personen, darunter viele Menschenrechtsaktivisten, wurden festgenommen. Einige der rund 250 Gefangenen, die zwangsweise in Spitäler gebracht worden waren, verweigerten dort jedoch jede Behandlung. Der Chef der türkischen Ärztegemeinschaft, Fusun Sayeh, sagte, es sei unethisch, die Gefangenen gegen ihren ausdrücklichen Willen ärztlich zu versorgen. Der Protest der Hungerstreikenden ­ durchwegs politische Häftlinge, Kurden und türkische Linksextremisten ­ war vor zwei Monaten ausgebrochen, als die Regierung einen immer wieder aufgeschobenen Plan in die Tat umsetzen wollte, politische Gefangene in neue Gefängnisse zu verlegen, wo sie nicht mehr in grossen Sälen mit bis zu hundert Menschen festgehalten werden, sondern in winzigen Zellen, genannt «Typ F», die maximal drei Personen fassen. Die Gefangenen befürchten, dort weit mehr als bisher den Brutalitäten der gefürchteten Wärter ausgesetzt zu sein.

Meinungen als «Verbrechen»

Auch unabhängige Kreise, insbesondere Menschenrechtsaktivisten, schlossen sich dieser Ansicht an. Eine Gruppe unabhängiger Intellektueller hatte in den letzten Wochen zwischen den Hungerstreikenden und den Behörden zu vermitteln versucht. Die Gefangenen verlangen vor allem ­ wie auch die EU ­ die Aufhebung des berüchtigten Artikels 312 des Strafrechts, der etwa «Aufwiegelung zum Hass» oder die Förderung des «Separatismus» zu Verbrechen erklärt. Auf der Basis dieses Artikels wurden Hunderte von Schriftstellern, Journalisten und Intellektuellen, überwiegend Kurden, als «Gedankenverbrecher» zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Häftlinge verlangen auch die Auflösung der gefürchteten Staatssicherheitsgerichte, vor denen sich all jene verantworten müssen, denen der Staat politische «Verbrechen» oder Terrorakte vorwirft. Die Abschaffung dieser Institution zählt ebenfalls zu den Grundforderungen der Europäischen Union, die die Türkei zu erfüllen hat, wenn sie Verhandlungen um die Aufnahme in die EU beginnen will. Die damit indirekt auch von Europa unterstützten Forderungen der Gefangenen beantwortet der türkische Staat ­ wie in der Vergangenheit ­ mit Gewalt.