Tagblatt (CH), 20.12.2000 Feuer in Gefängnissen Militär beendet Hungerstreik türkischer Häftlinge - zahlreiche Tote und Verletzte Der Versuch, in 20 türkischen Gefängnissen mit einem Grosseinsatz von militärischen Einheiten und Sondereinheiten der türkischen Polizei den Hungerstreik von ungefähr 260 Häftlingen gegen ein neues Zellensystem zu beenden, hat mindestens 17 Todesopfer gefordert. Im Gefängnis von Bayrampascha in Istanbul starben nach einer unbestätigten Meldung des Nachrichtensenders NTV ein Dutzend Häftlinge, die sich selbst angezündet hatten. Im ebenfalls in Istanbul gelegenen Gefängnis von Ümraniye wurde ein Insasse, der brennend auf die Einsatzkräfte zurannte, erschossen. Auch in Bursa verbrannten sich zwei Häftlinge. Angst vor mehr Folterungen In Ümraniye wurde ebenfalls ein Milizangehöriger von den Häftlingen erschossen, ein weiterer starb durch Schüsse in Canakkale. Auch in Bayrampascha soll auf die Einsatzkräfte geschossen worden sein. Aus dem Gefängnis stieg stundenlang schwarzer Qualm auf, während sich dichte Wolken von Tränengas auch auf die Umgebung legten. Erst nach 12 Stunden gelang es den Sicherheitskräften, den Widerstand der Häftlinge in Bayrampascha zu überwinden. 36 Häftlinge sollen zum Teil schwere Brandverletzungen davongetragen haben. Ausgangspunkt des Häftlingsprotests war die Absicht der türkischen Regierung, in den Gefängnissen anstelle der üblichen Haftblöcke mit bis zu 100 Insassen Einzel- oder Dreipersonenzellen einzuführen. Die überwiegend linksgerichteten Gefangenen befürchten, dass in den kleineren Zellenkomplexen die Gefahr von Folterungen grösser sei. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen ist Folter in türkischen Gefängnissen an der Tagesordnung. Eine Demonstration von Sympathisanten der Hungerstreikenden vor der Istanbuler Universität verhinderte die Polizei mit Schlagstockeinsatz. Nach einem weiteren Polizeieinsatz in Ankara warfen Jugendliche Steine auf die Polizisten. Zahlreiche Angehörige von Häftlingen und Menschenrechtsaktivisten wurden festgenommen, darunter die Vorsitzende des Türkischen Menschenrechtsvereins in Istanbul, Eren Keskin. Einsatz ein Jahr lang vorbereitet Justizminister Hikmet Sami Türk wertete die Operation als grosse Chance, das neue Zellensystem, gegen dessen Einführung Häftlinge seit 1991 kämpfen, endlich einzuführen und, wie er sagte, die Herrschaft von Terrororganisationen in den Gefängnisblöcken zu brechen. Ministerpräsident Bülent Ecevit rechtfertigte die Operation mit den Worten, dass man die Terroristen vor ihrem eigenen Terror habe «retten und schützen» müssen. Er wies auch auf die lange Geduld hin, die der Staat bei den wochenlangen Verhandlungen um ein Ende des Hungerstreikes bewiesen habe. Allerdings waren diese Bemühungen vor einigen Tagen an einen toten Punkt gekommen, als Justizminister Hikmet Sami Türk überraschend eine Erklärung abgab, dass er bei der Einführung des neuen Zellensystems auf keinen Fall nachgeben werde. Der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltsvereinigung, Yücel Sayman, kritisierte ihn für diese Haltung und wies darauf hin, dass verschiedene nichtstaatliche Organisationen die Verhandlungen weitergeführt hätten, aber der Minister habe sich «sehr zugeknöpft verhalten». In Wirklichkeit war der Staat seit langem auf einen solchen Einsatz vorbereitet. Innenminister Tantan erklärte, die Sicherheitskräfte hätten die Operation seit einem Jahr geübt. Auch nach dem Einsatz von Militär und Polizei gegen den Hungerstreik ist die weitere Entwicklung ungewiss. Zahlreiche der mit Gewalt ins Krankenhaus gebrachten und im Hungerstreik stehenden Häftlinge verweigern weiter jede Behandlung. 9000 sympathisierende Gefangene Zwangsernährungsversuche gelten als gefährlich. Viele Ärzte weigern sich, Patienten gegen ihren Willen zu behandeln, worauf der Vorsitzende der Ärztekammer von Ankara, Ümit Erol, ausdrücklich hinwies. Der Zustand von 19 Gefangenen galt schon am Montag als sehr ernst. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Gefängnisinsassen zum Teil seit 61 Tagen in einem unbefristeten Fasten, und ungefähr 9000 Häftlinge unterstützten die Aktion mit befristeten Hungerstreiks. Sie lassen sich alle linksgerichteten türkischen Gruppierungen zurechnen, denen sich später auch Häftlinge aus illegalen kurdischen Gruppen, insbesondere von der PKK, angeschlossen haben. Ihnen hätte die umstrittene Teilamnestie, die die Regierung gegen den Widerstand des Präsidenten Ahmet Necdet Sezer und trotz Bedenken in den eigenen Reihen diese Woche im zweiten Anlauf durchs Parlament zu bringen versucht, nicht die Freiheit gebracht - im Gegensatz zu vielen rechtsradikalen Häftlingen. Jan Keetman, Istanbul |