Neue Luzerner Zeitung (CH), 20.12.2000 Zürich/Bern: Türkisch-kurdische Demonstrationen Protestaktion im Bundeshaus Die Proteste gegen die Türkei erreichten gestern auch die Schweiz. In Bern wurde das Bundeshaus besetzt, in Zürich bei Ausschreitungen eine Polizistin verletzt. sda/ap. Acht Demonstranten hatten sich um 14 Uhr einer Führung durch das Bundeshaus angeschlossen, wie der stellvertretende Generalsekretär der Parlamentsdienste, Hans Peter Gerschwiler, den Medien mitteilte. Im Ständeratssaal lösten sie sich von der Gruppe und schlossen sich im Vorzimmer Ost ein. Personal überrumpelt Später stiessen vier weitere Personen dazu, die sich ordentlich für eine spätere Führung angemeldet hatten. Diese hatten zum gleichen Zeitpunkt das Personal an der Eingangsloge zum Bundeshaus überrascht. Es seien weder Geiseln genommen noch Gewalt angewandt noch Sachen beschädigt worden, sagte Gerschwiler. Die Besetzerinnen und Besetzer hätten nach einer hochrangigen Gesprächsperson verlangt. Einstündige Verhandlungen Berner Polizeigrenadiere bezogen nach einer halben Stunde vor dem besetzten Zimmer und auf dem Bundesplatz Stellung. Sie drangen ins Ständeratszimmer nicht ein, weil die Demonstrantinnen und Demonstranten damit gedroht hatten, sich in diesem Fall aus dem Fenster zu stürzen. Der Chef der Politischen Direktion im Aussenministerium, Botschafter Blickenstorfer, habe den Aktivisten in einstündigen Verhandlungen zugesagt, dass er im Beisein eines Aktivisten der Botschaft in Ankara den Auftrag erteilen werde, beim türkischen Aussenministerium eine Erklärung einzuholen, sagte Gerschwiler. Weitere Zugeständnisse wurden nicht gemacht. Gegen «faschistische Türkei» Die Demonstranten riefen aus dem Ständeratszimmer Slogans gegen die Türkei aus den Fenstern. Als «Widerstandskomitee gegen die Todeszellen» protestierten sie gegen das Vorgehen der türkischen Polizei, die gestern Morgen in zwanzig Gefängnissen gewaltsam einen Hungerstreik von mehr als 1000 Häftlingen beendet hat. Die Besetzer skandierten am Fenster gegen die «faschistische Türkei». Auf einem roten Transparent stand: «Stopp mit dem Massaker in der Türkei». Strafanzeige eingereicht Die Parlamentsdienste hätten Straf anzeige wegen Hausfriedensbruch eingereicht, sagte Gerschwiler. Die Demonstranten seien identifiziert. Triumphierend wurden sie um 16.32 Uhr von rund fünfzig Gesinnungsgenossen auf dem Bundesplatz mit Beifall empfangen. Beobachtet von wenigen Zuschauern konnten sie ungehindert abziehen. Vor dem Bundeshaus protestierten insgesamt vierzig bis fünfzig Personen gegen die «Schaffung von Isolationsgefängnissen in der Türkei». Sie verteilten Flugblätter im Namen eines «Widerstandskomitees gegen die Todeszellen». Nach Aussagen eines Demonstranten setzten sich die Manifestierenden aus Türken, Kurden und Armeniern aus der Türkei zusammen. Auf Flugblättern wiesen sie auf die Hungerstreikenden in türkischen Gefängnissen hin. Die Polizei stand mit rund zwanzig bis dreissig Mann im Einsatz. Bundeshaus bleibt offen Das Parlamentsgebäude soll trotz der Besetzungsaktion ein offenes Haus bleiben. Es entspreche einem politischen Willen, dabei gewisse Risiken einzugehen, sagte Gerschwiler. «Das war keine Krise, sondern ein Zwischenfall.» In den Details werde das Sicherheitsdispositiv nach dem ersten Vorfall dieser Art überprüft. In seiner dreizehnjährigen Amtszeit sei es zu keiner vergleichbaren Aktion gekommen. Polizistin verletzt Nicht nur in Bern, auch in Zürich kam es gestern zu Protestaktionen. Rund hundert Kurden und Zürcher Autonome haben in Zürich gegen den Strafvollzug in der Türkei protestiert. Sie warfen Steine gegen das türkische Konsulat, die Polizei reagierte mit einem Gummischroteinsatz. Zur unbewilligten Kundgebung hatten sich die Demonstrierenden am Morgen am Helvetiaplatz versammelt. Sie zogen gegen Mittag über die Langstrasse und den Limmatplatz zum türkischen Konsulat im Stadtkreis 6. Dort wurden sie von einem grösseren Polizeiaufgebot empfangen, das das Konsulat neben der permanenten Bewachung durch Angehörige des Festungswachtkorps zusätzlich schützte. Die Polizei wurde gegen 13.30 Uhr mit Steinen beworfen und antwortete mit Gummischrot. Bei der Auseinandersetzung vor dem Konsulat wurde eine Polizistin am Bein verletzt, wie ein Polizeisprecher auf Anfrage sagte. Danach zogen die Demons trierenden wieder ab und begaben sich zurück zum Helvetiaplatz. Dort löste sich die Kundgebung kurz nach 15 Uhr auf. |