Wochenzeitung WoZ (CH), 21.12.2000 Türkei: Grossangriff auf Hungerstreikende Durch «Rückkehr zum Leben» in den Tod Jan Keetman, Istanbul Sturm auf zwanzig Gefängnisse, mindestens achtzehn Tote, erneute Militärattacke am folgenden Tag - die Schreckensmeldungen jagen sich. Und doch verschlug es einem fast den Atem, als der Name der Operation bekannt wurde: «Rückkehr zum Leben». Dabei war von vornherein absehbar gewesen, dass es Tote geben würde, denn die Drohung einiger Gefangener, sich anzuzünden, falls ihr Hungerstreik mit Gewalt gebrochen würde, war sehr ernst zu nehmen. Doch was als Zynismus erscheint, ist in Wirklichkeit nur ein neuer Akt der psychologischen Kriegführung in einer seit über einem Jahr vorbereiteten Aktion; denn dass sich die Gefangenen gegen die Einführung des neuen Zellensystems mit einem Hungerstreik wehren würden, war allen Beteiligten schon lange klar. Wie mit eisernen Besen wurden die Hungerstreikenden aus ihren Zellen gefegt, in Krankenhäuser gebracht und Psychologen übergeben, die sie von der Fortführung des Streiks abbringen sollten. Nicht anders wurde die Öffentlichkeit behandelt. ReporterInnen wurden auf Distanz gehalten, im Falle des Gefängnisses von Ümraniye in Istanbul ganze drei Kilometer, und die Informationen, die die Fernsehansagerinnen verlesen durften, waren sorgsam aufbereitet. So hiess es in der ersten Meldung über das Verhalten der in die Krankenhäuser gebrachten Hungerstreikenden, so gut wie alle verweigerten die Behandlung. Dann wurde das «so gut wie alle» durch «einige» ersetzt, und dabei blieb es dann. Nur die Ärztekammer von Ankara beharrte auf der alten Darstellung. Über dem Qualm der brennenden Menschen und den dichten Tränengasschwaden liegt auch der Nebel der psychologischen Kriegführung. Alles kann daher nur vorläufig gesagt werden. Vorsicht ist gegenüber den offiziellen Verlautbarungen («achtzehn Tote») angebracht, denn Angehörige sprechen von bis zu dreissig Toten und in einzelnen Fällen von der Ermordung von Häftlingen durch Soldaten. Mehr als auf Einzelheiten der Militäraktion sollte man daher auf die Gründe für den Hungerstreik achten. Da sind zunächst die Forderungen der Häftlinge. Im Zentrum steht der seit neun Jahren dauernde Kampf gegen die Einführung eines Systems mit Einzel-, Zweier- und Dreierzellen, wie es in Westeuropa die Norm ist. Dass dies zum zentralen Streikpunkt geworden ist, hat viele Gründe, auch kulturelle. So hat sich in der Türkei die Individualgesellschaft, in der es die Menschen gewohnt sind, allein zu leben, noch nicht durchgesetzt. Im Kern geht es jedoch um eine Machtfrage zwischen dem Staat und den Häftlingen. Je nach Standpunkt kann man sagen, dass einzelne Häftlinge leichter zu brechen sind als eine Gruppe - oder dass die Gruppe psychischen, manchmal auch physischen Zwang auf alle ausübt, die ausscheren wollen. Die Häftlinge sind nicht alle gleich, und so dürfte beides zutreffen. Nicht nur die Gefangenen, auch Menschenrechtsorganisationen befürchten allerdings, dass in den Einzelzellen noch ungehinderter gefoltert wird. Man darf die Auseinandersetzungen nicht unabhängig von den Zuständen im türkischen Strafvollzug sehen, auf die die übrigen Forderungen der Hungerstreikenden abzielen. Dazu gehört insbesondere eine Garantie, dass die Verantwortlichen für die Gefängnismassaker der letzten Jahre bestraft werden. Beispielsweise für den Tod von zehn Häftlingen vor drei Jahren in Diyarbakir. Diese seien, so hiess es, bei einem Aufstand umgekommen. Fotos der Leichen erzählten jedoch eine andere Geschichte: Alle zehn hatten die gleichen Verletzungen - zersplitterte Schädel und gebrochene Hände. So wie jemand, der die Hände über den Kopf hält, während man mit einer Eisenstange auf ihn einschlägt (Überlebende hatten davon berichtet). Ein ähnliches Massaker gab es auch im Gefängnis Ulucanlar in Ankara, bei dem ebenfalls zehn Häftlinge starben. Die Verantwortlichen jener Schlächtereien müssen sich bei der Operation «Rückkehr zum Leben», die am Dienstagmorgen begann, die Hände gerieben haben. Auf der Liste der Hungerstreikenden finden sich auch Forderungen, die von liberalen JuristInnen erhoben werden, wie etwa die Aufhebung von Paragraphen, mit deren Hilfe selbst blosse Meinungsäusserungen als terroristische Tat geahndet werden können. Bei den Verhandlungen, die die Hungerstreikenden mit dem Staat und einigen nichtstaatlichen Organisationen führten, zeigten sie sich durchaus beweglich; in der Frage der Grösse der Häftlingsgruppen zum Beispiel waren sie zu Zugeständnissen bereit. Nach Aussagen des Abgeordneten Mehmet Bekaroglu von der islamistischen Tugendpartei wollten die Hungerstreikenden zwei Tage vor dem Einsatz erneut ein Kompromissangebot vorlegen, aber Justizminister Hikmet Sami Türk von der Demokratischen Linkspartei DSP zeigte kein Interesse an weiteren Verhandlungen, sondern trat lieber zwei Tage später vor die Kamera und sagte, man habe alles versucht, aber um das Leben der Hungerstreikenden nach 61 Tagen «Todesfasten» zu retten, sei die Operation notwendig gewesen. Gleichzeitig brach er sein im Parlament gegebenes Versprechen, nach dem eine Verlegung von Häftlingen in die neuen Gefängnisse nur im gesellschaftlichen Konsens erfolgen würde, und begann sofort mit der Verlegung. Offenbar war seine scheinbar so kompromissbereite Haltung - die lange Zeit die Hoffnung auf eine Lösung keimen liess - auch nur ein Akt der psychologischen Kriegsführung. Kurz vor Redaktionsschluss stürmte die Polizei mit Panzerwagen und Bulldozern erneut zwei Gefängnisse in Istanbul und Canakkale; gleichzeitig gingen staatliche Sicherheitskräfte rigoros gegen jede Art von Sympathiebekundung vor. In Europa kam es zu zahlreichen Protestaktionen. In der Schweiz hatten bereits am Dienstag mehrere KurdInnen und TürkInnen das Bundeshaus besetzt; in Zürich demonstrierten mehrere hundert vor dem türkischen Konsulat. Justizminister Türk erklärte am Mittwochnachmittag, man habe das «Leben» von mehreren hundert Hungerstreikenden «retten» können. Nach Informationen mehrerer ÄrztInnen verweigert jedoch ein Teil der tausend Hungerstreikenden weiterhin die Nahrungsaufnahme. |