web de 21.12.2000
Militäraktion gegen Häftlingsstreik in Türkei geht
weiter
Gefangene leisten erbitterten Widerstand - Parlament stimmt Amnestiegesetz
zu
Ankara (AP) Soldaten in der Türkei haben am Donnerstag weiter versucht,
den Widerstand hungerstreikender Häftlinge gewaltsam zu brechen.
Am dritten Tag der Militäraktion in 20 Gefängnissen leisteten
die Gefangenen der Haftanstalten von Canakkale und im Istanbuler Stadtteil
Umraniye weiter erbitterten Widerstand. Das Parlament in Ankara stimmte
unterdessen einem Amnestiegesetz zu, mit dem die Hälfte der Insassen
in türkischen Gefängnissen freikommen könnte.
Die Streitkräfte setzten Bulldozer ein, um Wände zu durchbrechen,
hinter denen sich Gefangene verbarrikadiert hatten. Die meist linksgerichteten
Häftlinge sollen mit Gewehren und selbst gebauten Flammenwerfern
bewaffnet sein. In Istanbul seien die ganze Nacht über Schüsse
zu hören gewesen, berichtete die Nachrichtenagentur Anatolia. Nach
einem Bericht des Privatsenders NTV gelang es den Häftlingen immer
wieder, sich dem Zugriff der Soldaten zu entziehen. Diese sprühten
laut NTV Tränengas, um die Gefangenen aus ihren Verstecken zu treiben.
Ministerpräsident Bülent Ecevit erklärte, die Soldaten
würden «langsam und sensibel» vorgehen, um weitere Todesfälle
zu vermeiden. Bis zum Mittwoch hatten die Streitkräfte 18 der 20
bestreikten Gefängnisse in ihre Gewalt gebracht; nach Angaben der
Behörden wurden 17 Häftlinge und zwei Soldaten getötet.
Trotz Protesten von Verbrechensopfern stimmte das türkische Parlament
einem umstrittenen Amnestiegesetz zu. Sobald Präsident Ahmet Necdet
Sezer das Gesetz unterschreibt, könnte die Hälfte der rund 72.000
Gefangenen freigelassen werden. Sezer hatte bereits früher das Gesetz
abgelehnt und darf sein Veto nicht noch ein zweites Mal einlegen. Die
neue Vorschrift sieht eine Reduzierung der Haftstrafen um zehn Jahre für
Taten vor, die vor dem 23. April 1999 begangen wurden. Von ihr würden
unter anderem Mörder und Räuber profitieren, aber nicht Gefangene,
die wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt wurden.
Mit der Neuregelung will die Regierung der überfüllten Gefängnisse
Herr werden. Sie begann bereits, die Häftlinge aus schlafsaalähnlichen
Unterkünften mit bis zu 100 Häftlingen in einem Raum in Einzel-
oder Dreierzellen zu verlegen. Gegen diese Verlegung wehrten sich die
Häftlinge mit ihrem Hungerstreik. In kleinen Zellen fürchten
sie, stärker Misshandlungen und Willkür des Wachpersonals ausgesetzt
zu sein.
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