yahoo 21.12.2000 14:29 Uhr
Türkische Polizei stürmt weiteres Gefängnis
Istanbul (Reuters) - Die Polizei in der Türkei hat nach offiziellen
Angaben eines der zwei noch von Häftlingen kontrollierten Gefängnisse
in ihre Gewalt gebracht. Die Polizeiaktion im Gefängnis Canakkale
im Westen des Landes sei vorbei, verlautete am Donnerstag aus dem Innenministerium.
In der Istanbuler Haftanstalt Umraniye wehrten sich die Insassen weiter
gegen die eindringenden Polizisten. In den vergangenen Tagen schlugen
diese die Revolten von Gefangenen in 20 Gefängnissen nieder. Mindestens
19 Menschen kamen dabei ums Leben, 17 davon waren Häftlinge. Hunderte
von ihnen hatten mit einem Hungerstreik gegen eine Gefängnisreform
protestiert.
Justizminister Hikmet Sami Türk hatte in der Nacht zum Donnerstag
in Ankara gesagt, die Häftlinge müssten einsehen, dass ihr Widerstand
sinnlos sei. Das Vorgehen der Polizei hatte in der Türkei, aber auch
in Deutschland und Großbritannien zu Protesten geführt. In
Stuttgart besetzten am Mittwochabend 14 Türken den Fahrstuhl im Fernsehturm;
in London besetzten 50 Kurden zeitweise ein Riesenrad und drohten damit,
sich anzuzünden.
Augenzeugen berichteten von Schüssen im Istanbuler Umraniye- Gefängnis.
Nach Angaben der Behörden wehrten sich Häftlinge mit Brandsätzen.
Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Anatolien versuchte die Polizei
mit Durchsagen über Megafon, die Häftlinge im Hungerstreik zur
Aufgabe zu bewegen. Türk sagte, die Insassen sollten erkennen, dass
ihr Protest selbstzerstörerisch sei.
Die Polizei hatte den Sturm der Haftanstalten damit begründet, den
Hungerstreik beenden und Leben retten zu wollen. Viele Gefangene zündeten
sich an, als die Polizei in die Haftanstalten eindrang. Mit dem Hungerstreik
protestieren die Häftlinge gegen die im Zuge der Gefängnis-Reform
geplante Verlegung in kleinere Zellen. Die Regierung will damit nach eigener
Darstellung den Einfluss krimineller Banden, extremistischer Gruppen und
kurdischer Separatisten in den Anstalten verringern. Die Häftlinge
befürchten, dass sie in den kleineren Zellen eher Übergriffen
der Wachleute ausgesetzt sind.
Die Haftanstalten waren beim Vorgehen der Polizei am Dienstag weiträumig
abgesperrt worden, so dass Journalisten sich kein Bild von den Ereignissen
aus der Nähe machen konnten. Fernsehaufnahmen zeigten, wie die Polizei
mit schwerem Gerät die Außenmauern von Gefängnissen zu
durchbrechen versuchte.
Bei der Erstürmung der Gefängnisse am Dienstag kamen nach offiziellen
Angaben 17 Insassen und zwei Polizisten ums Leben. Mindestens 78 Menschen
seien verletzt worden. Die Regierung teilte mit, die meisten Häftlinge
hätten sich angezündet und selbst verbrannt. Nach Angaben des
türkischen Menschenrechtsverbandes starben mindestens 20 Häftlinge.
Mehr als 100 seien verletzt worden. Der Verband bezweifelte zudem die
offizielle Darstellung von Selbstverbrennungen. Demonstranten in Ankara
und in Istanbul warfen der Polizei vor, die Insassen ermordet zu haben.
Claudia Roth von den Grünen sagte im WDR, es sei so, dass sich Häftlinge
selber angezündet hätten. "Aber es gibt auch Berichte,
dass die Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität,
mit Maschinengewehren, mit Handgranaten, hungerstreikende Menschen angegriffen
und getötet haben." Grundproblem in den türkischen Gefängnissen
sei, dass dort gefoltert werde und dass es keine Verurteilung von Folterern
gebe, sagte Roth, die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte
ist.
Die EU-Kommission hatte sich am Mittwoch besorgt über die Vorgänge
in den türkischen Haftanstalten geäußert. Sie rief alle
Beteiligten auf, die Gewalt zu beenden und eine friedliche Lösung
zu suchen. Die Situation in den türkischen Gefängnissen war
in der Vergangenheit immer wieder auf Kritik in der EU gestoßen,
der die Türkei beitreten will. Der Europarat hatte der Türkei
Anfang Dezember in einem Bericht seines Anti-Folter-Komitees vorgeworfen,
dass Folter in den Gefängnissen des Landes noch immer vorkomme.
Unterdessen stimmte das türkische Parlament zum zweitenmal für
ein Amnestie-Gesetz, das die Zahl der Häftlinge halbieren soll. Nach
dem ersten Votum hatte Präsident Ahmet Necdet Sezer seine Unterschrift
verweigert, nach dem zweiten muss er das Gesetz unterzeichnen.
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