web de 21.12.2000 19:50 Türkisches Amnestiegesetz tritt in Kraft Weitere Häftlinge ergeben sich - 400 Gefangene leisten noch Widerstand - Zwei weitere Tote Ankara (AP) Wenige Stunden nach der erneuten Zustimmung des Parlaments hat der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer das umstrittene Amnestiegesetz am Donnerstag unterzeichnet und damit in Kraft gesetzt. Sezer hatte gegen das von der Regierung vorgelegte Gesetz bereits einmal sein Veto eingelegt, darf dies aber nicht zwei Mal tun. Unterdessen haben sich auch die Insassen des Gefängnisses von Canakkale dem Militär ergeben. Das Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Umraniye ist damit noch das einzige von ursprünglich 20 Haftanstalten, das der Belagerung durch die Streitkräfte auch nach drei Tagen noch standhält. Die 158 noch Widerstand leistenden Insassen in Canakkale gaben am Donnerstag den Kampf auf und krochen aus den von Planierraupen eingerissenen und von Tränengasqualm durchzogenen Gebäuden. Die Soldaten entdeckten nachher zwei weitere tote Gefangene, wodurch sich die offiziell eingeräumte Zahl toter Häftlinge auf 19 erhöht. Auch zwei Soldaten starben bei der am Dienstag begonnenen Militäraktion gegen im Hungerstreik befindliche politische Gefangene. Die Gefangenenhilfeorganisation Özgür Tayad schätzt die Zahl der Opfer noch wesentlich höher, machte aber keine genauen Angaben. In Umraniye leisteten am Donnerstagabend noch 435 Häftlinge erbitterte Gegenwehr. Sie schworen, «bis zum Tod oder zum Sieg» weiter kämpfen zu wollen. In Canakkale flogen immer wieder Polizeihubschrauber über dem Gefängnis. Über Lautsprecher wurden die meist linksgerichteten Häftlinge zum Aufgeben aufgefordert. Justizminister Hikmet Sami Türk erklärte, die Streitkräfte ließen Vorsicht walten, um kein weiteres Menschenleben zu gefährden. Trotz Protesten von Verbrechensopfern stimmte die Nationalversammlung
in Ankara am Donnerstagmorgen dem Amnestiegesetz zu. Es sieht die vorzeitige
Freilassung von rund der Hälfte der rund 72.000 Gefangenen vor. Die
neue Regelung lässt eine Reduzierung der Haftstrafen um zehn Jahre
für Taten zu, die vor dem 23. April 1999 begangen wurden. Von ihr
würden unter anderem verurteilte Mörder und Räuber profitieren,
aber nicht Gefangene, die wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt
wurden. Mithin fallen die meuternden politischen Häftlinge nicht
unter die Amnestie. Sie wollten mit ihren Protestaktionen verhindern,
dass sie aus großen Massenunterkünften in Gefängnisse
mit Einzel- und Mehrbettzellen verlegt werden, wo sie nach ihren Angaben
der Willkür des Wachpersonals stärker ausgeliefert wären.
Mit der Amnestie will die Regierung die überfüllten Gefängnisse
entlasten.
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