Frankfurter Rundschau, 23.12.2000 Türkische Polizei stürmt auch das letzte Gefängnis Vier Häftlinge verbrannten sich angeblich selbst / Staatspräsident setzt Amnestie in Kraft Schwer bewaffnete Spezialeinheiten der türkischen Armee und der Polizei haben am Freitag auch das Umraniye-Gefängnis in Istanbul gestürmt. Vier Häftlinge kamen dabei ums Leben. ATHEN, 22. Dezember (öhl/afp/ap/dpa). Damit hat der Staat wieder die Kontrolle über die 20 Haftanstalten, die von den Gefangenen besetzt worden waren, und in denen mehr als 1000 Häftlinge in einen Hungerstreik, zum Teil sogar in ein "Todesfasten", getreten waren. In Umraniye hielten sich 423 Gefangene verbarrikadiert. Justizminister Hikmet Sami Türk hatte zuvor erneut an die Häftlinge appelliert, ihren "sinnlosen Widerstand" aufzugeben. Aus der Haftanstalt ertönte immer wieder der Sprechchor "Sieg oder Tod". Die Häftlinge wehrten sich auch mit selbstgebastelten Flammenwerfern. Vier von ihnen verbrannten sich nach offiziellen Angaben selbst. Damit sind bei der "Eroberung" der Gefängnisse nach amtlichen Angaben 26 Menschen ums Leben gekommen. Schätzungen von Anwälten gehen von weitaus mehr Toten aus. Den Behörden fiel auf, dass die Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK den anstürmenden Polizisten kaum Widerstand entgegensetzten. Auch ihre Unterstützung des Hungerstreiks sei eher verhalten gewesen, teilte die Menschenrechtsstiftung THIV mit. Getragen würde die Revolte von linksextremen Untergrundorganisationen, zum Beispiel von der Revolutionären Partei und Volksbefreiungsfront (DHKP-C) sowie kleineren Gruppierungen. Die Proteste richten sich gegen die neuen Hochsicherheitsgefängnisse, die Einzel- und Dreierzellen statt der bisher üblichen Gemeinschaftsräume für bis zu 100 Gefangene haben. Dadurch fürchten die Häftlinge Isolation und Folter. Unterdessen sind am Freitag im Rahmen der jetzt in Kraft getretenen Amnestie die ersten Häftlinge freigelassen worden. Damit soll die katastrophale Überbelegung der Haftanstalten abgebaut werden, ein Grund dafür, dass es immer wieder zu Gefängnisrevolten kommt. 35 000 der 72 000 Strafgefangenen, nicht aber "politische" Häftlinge und Terroristen, können jetzt mit vorzeitiger Entlassung rechnen. Zu den "Politischen" zählen auch die meuternden Häftlinge. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer hatte dem Gesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken zunächst seine Unterschrift verweigert, musste die Amnestie aber billigen, nachdem sie diese Woche vom Parlament ein zweites Mal verabschiedet worden war. Justizminister Türk kündigte an, dass mit der Entlassung sofort begonnen werde. In den kommenden Jahren kämen weitere 5000 Häftlinge frei. "Dieses Gesetz ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Gefängnisreform in unserem Land", versichert der Justizminister. Nunmehr sei auch Platz in den kleinen Zellen. Insgesamt sitzen nach THIV-Angaben in türkischen Gefängnissen rund 12 000 politische Gefangene ein. Rund 9000 von ihnen sind militante Kurden, weitere 1000 radikal-islamische Fundamentalisten, und 2000 Gefangene gehören unterschiedlichen linksextremistischen Organisationen an. Kommentar auf Seite 3 |