junge Welt, 27.12.2000 Das Massaker dauert an Breiter Protest gegen Angriffe auf hungerstreikende politische Gefangene in der Türkei Zahlreiche Kundgebungen gegen die in der letzten Woche begonnenen Angriffe der Polizei- und Militärkräfte in der Türkei auf die im Hungerstreik befindlichen politischen Gefangenen hat es in Deutschland in den vergangenen Tagen gegeben. Heute sind nach Angaben der Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) Aktionen in Braunschweig und Saarbrücken geplant. Am vergangenen Samstag fanden in Berlin, Hamburg, Hannover, Duisburg, Dortmund, Bochum und Düsseldorf Kundgebungen statt. Den Terror der türkischen Soldateska hat auch Hans Branscheid, Sprecher der Hilfsorganisation medico international, angeprangert. Er fordert Bundesregierung, Europäische Union, Parteien und Hilfsorganisationen auf, »unverzüglich alle diplomatischen Mittel des Protestes zu benutzen und entschlossen unverzüglich Beobachterdelegationen in die Türkei zu schicken«. Die Angriffe der Armee in den Gefängnissen haben nach offiziellen Angaben bislang 29 Todesopfer gefordert. Es ist zu befürchten, daß es wesentlich mehr sind, da viele Schwerverletzte »verschwunden« sind - die Familienangehörigen suchen vergeblich in den Krankenhäusern, in die die Verwundeten angeblich gebracht worden sein sollen. Angehörige der Gefangenen wurden in großer Zahl verhaftet und dabei brutal zusammengeschlagen; auch hier gab es ungezählte Verletzte. Bis zum 22. Dezember hatten Spezialeinheiten der türkischen Regierung 20 Gefängnisse gestürmt, in denen sich linke politische Gefangene seit zwei Monaten im Hungerstreik befanden. Dabei wurden Bulldozer, Baumaschinen, Hubschrauber und Panzer eingesetzt. Nachdem die Mauern vieler Gefängnisse bei der Erstürmung niedergerissen und Dächer abgedeckt worden waren, argumentieren die Machthaber der Türkei nun, die Gefängnisse seien zerstört und sie müßten die Gefangenen in die neugebauten F-Typ-Gefängnisse verlegen. Mehr als 600 von ihnen sollen bisher unter Anwendung roher Gewalt in die Isoliergefängnisse deportiert worden sein. Menschenrechtsorganisationen in der Türkei betonen, daß die offiziellen Meldungen über vielfache Selbstverbrennungen von Gefangenen nicht der Wahrheit entsprechen. IHD- Mitglieder bestätigen den Bericht einer überlebenden Gefangenen von der vorsätzlichen Inbrandsetzung von sechs Mitgefangenen durch die Polizei. Nur zwei Gefangene hätten sich selbst in Brand gesetzt. Es handelt sich um Hasan Güngörmez, der sich jetzt im Krankenhaus befindet, und Ahmet Ibili, auf den außerdem noch ein gezielter Schuß von der Polizei abgegeben wurde. YEK-KOM fordert erneut den Europäischen Rat, dem die Türkei angehört, die Europäische Union, für die die Türkei seit einem Jahr offizielle Beitrittskandidatin ist, und die Regierungen Europas und der USA auf, »umgehend massiv gegen die Übergriffe gegen Menschenrechte und Völkerrecht zu intervenieren«. Auch eine Woche nach der Niederschlagung der friedlichen Gefängnisproteste setzen mehr als 350 Häftlinge ihr Todesfasten fort. Sie protestieren damit gegen ihre bevorstehende oder eine bereits erfolgte Verlegung in Isolationszellen, in denen die Gefangenen höchstens zu dritt untergebracht sein sollen, während jetzt Schlafsäle für bis zu 60 Häftlinge üblich sind. Sie fürchten, in der Isolationshaft noch mehr als bisher der Willkür der Aufseher ausgeliefert zu sein. Die 350 bereits seit mehr als zwei Monaten Fastenden wurden an den Weihnachtstagen von rund 1 600 weiteren hungerstreikenden Gefangenen unterstützt, wie der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk mitteilte. Den Meldungen zufolge erlag am Montag eine 22jährige Gefangene in einem Krankenhaus in Izmir ihren schweren Brandverletzungen. In Wien starb am Dienstag ein aus der Türkei stammender Kurde im Krankenhaus an Verbrennungen. Er hatte sich aus Solidarität mit den Häftlingsprotesten selbst angezündet. (jW) |