Süddeutsche Zeitung, 28.12.2000 Chatamis düstere Bilanz Dem Präsidenten Irans ist es nicht gelungen, das Leben der Reformer vor dem System zu schützen / Von Rudolph Chimelli Der von den Iranern lange erwartete Prozess gegen Geheimdienstangehörige, denen die Ermordung von fünf Dissidenten angelastet wird, ist vor einem Teheraner Militärgericht in Gang gekommen: nach zweijährigem Gerangel hinter den Kulissen, nach dem angeblichen Selbstmord der Schlüsselfigur, hinter verschlossenen Türen und boykottiert von den Angehörigen der Opfer. Diese haben auch ihre Anwälte zurückgezogen, und zwei dieser Anwälte sind überdies als Regimekritiker in Haft. Entsprechend gering ist die Hoffnung, dass das Verfahren Licht auf Hintergründe und Auftraggeber der Morde werfen wird. Der Skandal, der die Vertrauensgrundlage des Regimes erschütterte, brach im November 1998 aus, als der Oppositionspolitiker Dariusch Foruhar und seine Frau Parvaneh in ihrem Haus erstochen aufgefunden wurden. In den folgenden Wochen wurden noch drei bekannte Schriftsteller ermordet. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Reformbewegung Präsident Mohammed Chatamis, die damals Aufwind hatte, erfolgte die sensationelle Enthüllung, dass die Täter aus dem Geheimdienst kamen. Hoch stehende Kleriker, deren Namen erst allmählich durchsickerten, hatten jeweils durch eine geheime "Fatwa", einen fadenscheinigen Glaubensspruch, die Opfer zum Tod verurteilt. Der zuständige Geheimdienstminister musste zurücktreten. Er und sein Vorgänger, der frühere Präsident Rafsandschani sowie andere Machtträger der Islamischen Republik wurden in Enthüllungsartikeln und durch Aussagen als Verantwortliche genannt. Das System schien ins Wanken zu geraten. Doch inzwischen haben die Konservativen wieder Tritt gefasst. Said Emami, als stellvertretender Geheimdienstminister der höchste fassbare Täter, entzog sich bequemerweise jeder Zeugenvernehmung, indem er im Juni im Gefängnis Haarentferner schluckte und aus dem Leben schied. Bei ihm reißt für jeden der Angeklagten, die ihm unterstellt waren, die Befehlskette. Nur drei von ihnen sind bisher namentlich bekannt. Kaum jemand in Teheran zweifelt daran, dass Emami umgebracht wurde. Auch Saied Hadscharian kämpfte nach einem Mordanschlag wochenlang um sein Leben. Er ist einer der engsten Mitarbeiter von Präsident Chatami und hatte als einstiger Vizeminister für Geheimdienste wesentlich zur Aufklärung der Dissidenten-Morde beigetragen. Ganz mundtot ist Hadscharian nicht. Dennoch haben die Reformer durch das Verbot von 30 ihrer Zeitungen fast keine Stimme mehr. Die älteste Tochter Foruhars, die wie andere Angehörige der Ermordeten 1600 Seiten Akten durchblätterte, stellte fest, dass darin alles fehlt, was sich auf Emami bezieht. "Unsere Anwesenheit beim Prozess wäre eine Beleidigung unseres Verstandes gewesen", sagt sie. Der Vorsitzende des Justiz-Ausschusses des Parlaments, Nasser Kawami, findet: "Das Volk wird nie eine Antwort auf seine Fragen erhalten." Zwar haben die Reformer die Mehrheit, doch das Parlament ist entmachtet, wenn es um wesentlichen Fragen geht. Nasser Sarafschan, einer der inhaftierten Anwälte, behauptet, nicht nur fünf Dissidenten seien ermordet worden, sondern im Lauf der Jahre 43. Andere Regimekritiker sprechen von 80 Opfern, die seit 1990 durch eine geheime Paralleljustiz und mörderische Agenten getötet worden seien. Der mutigste dieser Kritiker, der Journalist Akbar Gandschi, der mehr Namen nannte als jeder andere, sitzt gleichfalls im Gefängnis. Auch wenn dem persischen Jahr noch fast drei Monate bleiben, fällt die Bilanz für Chatami düster aus. Der Präsident konnte keinen seiner Getreuen vor Verfolgung schützen. Jetzt behelligt die Justiz auch noch seinen Bruder mit Untersuchungen. Und die islamische Linke, die ihn unterstützt hatte, sucht sich inzwischen mit dem Establishment zu arrangieren. Einer ihrer Wortführer, der einstige revolutionäre Innenminister Ali Akbar Mohtaschemi, hat "nützliche Gespräche" mit dem geistlichen Führer Ali Chamenei.
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