Hamburger Abendblatt, 29.12.2000 Krankes Land am Bospurus Die Türkei steht vor einer der größten Herausforderungen ihrer Geschichte: die Aufnahme in die EU. Doch das Land stolpert von einer Krise in die nächste. Von WULF SCHÖNBOHM Die Bilder im Fernsehen schockierten das türkische Volk: Tausende von Polizisten demonstrierten in Uniform - bewaffnet, illegal und entgegen der Anweisung ihrer Vorgesetzten in sechs Großstädten der Türkei. Die Bematen gingen gegen die Regierung auf die Straßen; und im Zentrum der Hauptstadt Ankara lieferten sich rechts- und linksextremistische Jugendliche Straßenkämpfe. Geschockt und alarmiert war das Volk deshalb, weil ihn diese Ereignisse an die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen Ende der 70er-Jahre erinnerten. Damals wurden die Unruhen durch einen Militärputsch beendet. Spätestens seitdem macht sich in der Türkei das Gefühl breit, dass sich die Politik wieder einmal in einer Krise befindet. Da hilft auch nicht die Tatsache, dass in diesen Tagen die Regierung eine starke Mehrheit im Parlament hat. Aber die Krisensymptome waren schon vorher spürbar. Im November wurde das Land von einer schweren Finanzkrise überrascht: Die Zinsen für Türkische Lira stiegen auf bis zu 1000 Prozent pro Tag, weil die Geldinstitute unter Geldmangel litten. Ausländische Geldinvestoren hatten Milliarden Dollar aus der Türkei abgezogen. Die Istanbuler Börse fiel in wenigen Tagen um 50 Prozent. Die Furcht vor der Inflation ging um. Der Zusammenbruch des gesamten türkischen Banken- und Finanzsystems drohte. Nur durch schnelle Hilfe des Internationalen Währungsfonds, der einen Zehn-Milliarden-Dollarkredit gab, konnte diese Krise überwunden werden. Sie zeigte aber das geringe Vertrauen in die Stabilität der türkischen Wirtschaft und das Misstrauen gegenüber der Konsolidierungspolitik der türkischen Regierung. Noch im Oktober machte die Türkei den Eindruck eines politisch stabilen Landes mit handlungsfähiger Regierung und prosperierender Wirtschaft. Jetzt wird die Zukunft in düsteren Farben gemalt und von politischer Krise gesprochen. Viele verschiedene Entwicklungen kommen zusammen, die nicht optimistisch stimmen. Anfang Dezember hatte das türkische Parlament nach monatelangen Streitigkeiten innerhalb der Regierung und in der Volksvertretung bei zahlreichen Stimmenthaltungen der Regierungsparteien und mit Unterstützung der oppositionellen islamischen Fazilet-Partei ein Amnestiegesetz verabschiedet, das etwa 35 000, also der Hälfte aller Strafgefangenen, die Entlassung aus dem Gefängnis ermöglichen sollte. In Wahrheit ermöglicht dieses Amnestiegesetz die Strafreduzierung. Davon sind allerdings wichtige Gruppen von Straftätern ausgenommen sind. Um genau diese Regelung entbrannte ein Streit im Parlament, in der Regierung und in der Öffentlichkeit. Staatspräsident Sezer legte gegen dieses Gesetz 14 Tage später Widerspruch ein. Das Parlament beschloss daraufhin das Gesetz noch einmal ohne jede Veränderung. Der Staatspräsident unterschrieb es, ohne das Verfassungsgericht anzurufen. Noch vor Ende dem Jahreswechsel können die Gefangenen aus den Gefängnissen entlassen werden. Dieser schwere Konflikt zwischen Staats- und Ministerpräsident ist nicht der erste und trägt erheblich zur Verunsicherung bei. Die türkische Öffentlichkeit war bisher nicht gewohnt, dass Staats- und Ministerpräsident in aller Öffentlichkeit ihren Zwist austragen. Vor allem deshalb, weil das Staatsoberhaupt damit auch seine über den Parteien stehende Position als Integrationsfaktor verliert. Mit dem "Amnestiegesetz" politisch verbunden war die nach europäischem Vorbild geplante Reform der türkischen Gefängnisse. Ein neuer Gefängnistyp sollte eingeführt werden. Vor allem Schwerkriminelle sollen künftig nicht mehr wie bisher üblich in Räumen mit 20 bis 80 Strafgefangenen zusammenleben. In den Massenunterkünften haben kriminelle Banden und terroristische Gruppen das Sagen. Gegen die Einführung dieses Typs protestierten linksextremistische terroristische Gruppen unter Führung der Revolutionären Volksbefreiungspartei und der Türkischen Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee. Sie wurden durch einige türkische Intellektuelle und Nichtregierungsorganisationen unterstützt. 60 Tage lang protestierten über 200 Gefangene dagegen durch ein "Todes-Fasten" (Ende November bis Ende Dezember ist Fastenzeit), das zahlreiche Gefangene in Lebensgefahr brachte. Die türkische Regierung sagte zu, die Gefangenen erst später in die kleineren, ein bis drei Verurteilte aufnehmenden Zellen unterzubringen. Ein Konsens wurde nicht erreicht, so dass in den vergangenen Wochen die türkische Gendarmerie 28 Gefängnisse gewaltsam eroberte. Dabei kam es zu Schießereien, weil sich in einigen Gefängnissen die Gefangenen bewaffnet hatten. Ihre Zellen waren in den letzten zehn Jahren nicht mehr kontrolliert worden. Zahlreiche hungernde Strafgefangene zündeten sich auf Anweisung ihrer Führer an, als die Gendarmerie die Gefängnisse stürmte. Nach einer vorläufigen Bilanz starben über 30 Strafgefangene, zwei Polizisten wurden getötet. Türkischen Organisationen warfen dem Justizminister Wortbruch vor, weil er gleich nach dieser Aktion begann, die Rädelsführer der Protestaktionen in die neuen Gefängnisse zu verlegen. In den meisten türkischen Medien wurde die Aktion als notwendig beurteilt. Letztlich ging es bei dieser Auseinandersetzung um die Frage, wer künftig die türkischen Gefängnisse kontrollieren soll: der Staat oder Kriminelle. Wenngleich die Regierung Handlungsfähigkeit bewiesen hat, bleibt die Trauer um die Toten und ein schales Gefühl, dass solche Ereignisse in einem Land, das EU-Mitglied werden will, geschehen können. Das Ansehen der Regierung litt aber nicht nur unter der Finanz- und Bankenkrise, der Gefängnisrevolte und dem unpopulären Amnestie-Gesetz. Die Zweifel gegenüber der Regierung nehmen auch zu, ob sie noch in der Lage ist, wie bisher die Probleme der Türkei entschlossen anzupacken und zu lösen. Erste Abnutzungserscheinungen der Regierung sind unübersehbar. Hinzu kommt, dass die Regierung restlos zerstritten ist. Eigentlich hatte sie ihre Arbeit in diesem Jahr unter die Überschrift "Europa" gestellt und erste Reformschritte zur Annäherung an die EU realisiert. Nach dem der Türkei-Bericht der EU vorgelegt wurde, traten die Konflikte offen zu Tage. Dies führte dazu, dass das ursprünglich als Antwort auf den EU-Bericht angekündigte "Nationale Programm" der Türkei erst im Januar verabschiedet werden soll. In ihm sollen die konkreten Reformschritte zur Realisierung der Kopenhagener Kriterien festgeschrieben werden. Wesentlicher Grund dafür ist, dass sich besonders die MHP als zweitstärkste Regierungspartei mit Unterstützung des Militärs gegen die EU-Forderung ausspricht, die kurdische Sprache in regionalen Rundfunk- und Fernsehsendungen zuzulassen. Pikanterweise äußerte sich der Chef des Geheimdienstes MIT dazu positiv in der Öffentlichkeit. Die MHP und das Militär, das sich eindeutig öffentlich dagegen geäußert hat, befürchten, dass damit ein Schritt zur Spaltung des Landes und zur Aufwertung separatistischer Strömungen gemacht wird. Aber auch die Abschaffung der Todesstrafe ist in der Regierung höchst umstritten. Obwohl der Beitritt der Türkei in die EU nach Umfragen von der großen Mehrheit der türkischen Bevölkerung unterstützt wird und auch alle türkischen Parteien dieses Ziel befürworten, tritt nun das ein, was bei allen EU-Beitrittskandidaten stattfindet: Je konkreter notwendige Reformen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien formuliert und umgesetzt werden, umso deutlicher mobilisiert sich der Widerstand dagegen. Genau in diesem Prozess befindet sich die Türkei. Obwohl schon seit längerem bekannt, wird nunmehr erstmalig im Parlament und auch in den türkischen Medien offen über das schwere Krebsleiden von Ministerpräsident Bülent Ecevit diskutiert und gefragt, ob er überhaupt noch die schwierigen Amtsgeschäfte des Ministerpräsidenten wahrnehmen kann. Streit zwischen Staats- und Ministerpräsident, ein kranker Ministerpräsident - das sind Signale der Instabilität und Unsicherheit. Dies ist vor allen Dingen deshalb so entscheidend, weil Ecevit die zentrale Figur der türkischen Politik ist. Ein Nachfolger ist weit und breit nicht in Sicht. Zusätzlich wird die Unsicherheit über die politische Zukunft der Regierung noch dadurch gestärkt, dass ein Verbot der Fazilet-Partei durch das Bundesverfassungsgericht Anfang 2001 nicht ausgeschlossen werden kann. Das könnte zu vorgezogenen Neuwahlen führen. Wer aber aus ihnen als stärkste Partei hervorgehen wird und wie eine Regierungsbildung aussehen könnte, ist völlig unklar. Die türkische Politik scheint wieder einmal an einem Wendepunkt zu stehen. Ob die bisherige an Europa orientierte Reform- und Konsolidierungspolitik im neuen Jahr konsequent fortgesetzt wird, ist fraglich. Der politischen Aufbruchstimmung ist Unsicherheit und Pessimismus gewichen. Aber die türkische Politik war immer für Überraschungen gut, vielleicht doch noch einmal für eine positive. Wulf Schönbohm (59) ist Türkeibeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara. Der promovierte Politiloge lebt und arbeitet seit 1997 in der Türkei. Zuvor war er enger Mitarbeiter des früheren CDU-Generalsekretärs Heiner Geisler. In dieser Zeit erwarb er sich den Ruf eines Grundsatzdenkers und Strategen. Schönbohms Bruder Jörg (CDU) ist Innenminster des Landes Brandenburg.
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