Süddeutsche Zeitung, 30.12.2000 Kemal Atatürks laizistisches Erbe Die falschen Derwische von Konya Wie eine alte religiöse Tradition in der Türkei zum Touristenrummel verkommen ist - und sich im Verborgenen dennoch weiter dreht / Von Wolfgang Koydl Konya - In puncto Nachtleben ist nicht viel los in Konya. Die Stadt im Herzen Anatoliens ist konservativ und erzislamisch. Eine Billardstube, eine Bierkneipe, zwei Internet-Cafes - das wars auch schon. Doch wer ein paar hundert Mark übrig hat, der kann wenigstens die Derwische tanzen lassen. Cenk und seine Freunde jedenfalls sind frei. Man kann sie bestellen wie eine Zigeunerkapelle oder eine Bauchtänzerin. Dann stülpen sie den kegelförmigen Hut aufs Haupt, streifen sich die langen weißen Gewänder über und markieren Ekstase, wenn sie sich zum Klang der Rohrflöte im Kreise zu drehen beginnen. Mit dem 700 Jahre alten religiösen Ritual des untergegangenen Derwisch-Ordens der Mevlevi hat ihre Darbietung nichts zu tun. Nur 200 Meter liegen zwischen dem Grabmal des Ordensgründers Mevlana Dschelaleddin el-Rumi und dem Restaurant "Mevlevi Sofrasi", in dem Cenks Freunde auftreten. Aber diese kurze Distanz markiert den abgrundtiefen Sturz von den hohen Idealen einer inbrünstig von vielen Menschen gefühlten Volksreligion zur abgeschmackten Touristenattraktion. Show unter Disko-Lichtern In dem auf alttürkisch getrimmten Restaurant führen die zehn jungen Männer allabendlich den Sema auf, den traditionellen Drehtanz, mit dem sich die Derwische einst in Trance versetzten, um Gott näher zu rücken und seine Geheimnisse besser zu verstehen. Die sechs Musiker im "Mevlevi Sofrasi verstehen jedoch nur eins: dass Zeit Geld ist. Sie feixen, sie gähnen, sie sehen verstohlen auf die Uhr, und nach 40 Minuten ist die Show unter Disko-Lichtern schon vorbei. Dass die Ideen der muslimischen Mystiker in der Hauptstadt ihres Ordens derart verkommen sind, ist Mustafa Kemal Atatürk zu verdanken. Zwei Jahre nach der Ausrufung der türkischen Republik ließ er 1925 alle islamischen Orden und Bruderschaften verbieten. Sie waren ihm zu konservativ, zu rückschrittlich. Der eigentliche Grund: Beim Kampf um die Herzen der Menschen schnitten die religiösen Gemeinschaften besser ab als der neue und von vielen als gottlos empfundene Nationalstaat. Doch bei der anatolischen Landbevölkerung sind die Gedanken Mevlanas bis heute populär. Im Mittelpunkt steht die Liebe Gottes: "Wer sich von ihr entfernt, wird von Gold und Silber gefangen genommen", schrieb Mevlana. So tief verwurzelt war seine Ideologie, dass Atatürk schon ein Jahr nach dem Verbot der islamischen Gemeinschaften das Mevlana-Grabmal wieder öffnen lassen musste - wenn auch nur als Museum. Früher standen die Tore des Schreins Tag und Nacht offen. Heute müssen sich Andacht und Gebet nach staatlich festgelegten Öffnungszeiten richten. Gebetet wird von neun bis fünf, dann werden die Türen - wie ein Hinweis am Eingang erklärt - "verschlossen und versiegelt". Es folgt der merkwürdige Zusatz: "Bestehen Sie deshalb nicht darauf, dass abermals geöffnet wird. Die Anmerkung verdeutlicht, dass viele das Grabmal des 1273 gestorbenen Dschelaleddin noch heute als Pilgerort empfinden, zu dem der Zugang eigentlich nicht reglementiert werden dürfte. Jeden Abend finden sich Männer und Frauen auf der Straße vor dem Museum ein. Sie verharren, beten, verneigen sich und schieben Zettel mit Wünschen unter der Türe durch. Denn Mevlana wird verehrt als Volksheiliger. Er kann vermitteln bei Allah, Fürsprache einlegen und Sorgen zu Gehör bringen. Deshalb strömen die Menschen nach Konya und haben die verschlafene Kleinstadt zu einem der stärksten Touristenmagneten der Türkei gemacht - mit mehr als einer Million Gäste jährlich. Erdogan Erol glaubt, dass die Mehrzahl nicht aus religiösen Gründen kommt. "Nur eine kleine Gruppe gibt es, die wir Donnerstagler nennen, weil sie jeden Donnerstag kommen, um zu beten", meint er ein wenig abschätzig. Doch als Museumsdirektor vertritt Erol den Staat und deshalb darf er gar nichts anderes sagen. Denn wenn man die Besucher des Schreins sieht, wird schnell klar, dass all die einfachen alten Frauen und anatolischen Bauern gewiss nicht vom kunsthistorischen Interesse an kalligrafischen Korantexten getrieben werden. Dschelaleddin war mit seinem Vater Bahaeddin, einem angesehenen muslimischen Geistlichen, um das Jahr 1212 aus der nordafghanischen Stadt Balkh nach Konya gekommen, der Hauptstadt der seldschukischen Sultane. Nach dem Tod des Vaters begann Dschelaleddin selbst zu predigen. Aber erst die Begegnung und enge Freundschaft mit dem jungen Intellektuellen und Mystiker Sems-i Tebrizi markierte den Beginn seiner Sufi-Lehre. Ihre Attraktivität bezog sie aus ihrer Toleranz. Die Doktrin der Mevleviten mag zwar auf islamischen Konzepten beruhen, sie ist jedoch offen für alle Menschen. "Komme, und komme immer wieder, wer und was du auch sein magst, komm", lautet die zentrale Botschaft. "Ob du Heide bist, Feueranbeter oder Götzendiener, komme; komm, auch wenn du deine Buße hundertfach gebrochen hast, denn bei uns ist nicht die Pforte zu Verzweiflung und Elend, komm. Nach dem Ende der seldschukischen Herrschaft breitete sich der Orden auch unter den osmanischen Herrschern rasch im ganzen Reich aus. Überall entstanden Logen - vom ungarischen Pecs bis in den Jemen, von Marokko bis an die Grenzen Persiens. Die Mevlevi-Klöster waren sieben Jahrhunderte lang Zentren der schönen Künste, und allein deshalb mussten sie strikten Muslimen eigentlich suspekt sein. Denn hier pflegten die Derwische Lyrik, Musik, Tanz und Malerei - alles Künste, die der Islam verbietet. In Europa wurden die Mevlevi-Derwische jedoch vor allem durch ihren Tanz bekannt. Immer wieder drehen sie sich, und bei jeder Drehung murmeln sie beschwörend "Allah, Allah". Der Tanz symbolisiert die Bewegung allen Seins: So wie sich Planeten um die Sonne drehen und Elektronen um den Atomkern, so ist auch das Leben des Menschen ein nicht endender Kreislauf von Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen. Hasan Dede hat die Geheimnisse des Sema, des Tanzrituals, noch auf die alte Weise gelernt, und deshalb kann er sich als letzter echter Derwisch-Scheich bezeichnen. "Man stellt sich mit dem linken Fuß auf eine Platte, aus der ein Nagel ragt, den man zwischen den großen und den nächsten Zeh nimmt. Dann stößt man sich mit dem rechten Fuß ab und beginnt zu drehen", erinnert sich Hasan Dede. "Die Haut schürft ab, es blutet, aber man dreht sich weiter - erst fünfzig Mal, dann hundert Mal. Nach drei Monaten schafft man die vorgeschriebene Zahl von 1001 Drehungen. Wie das spirituelle Oberhaupt eines religiösen Sufi-Ordens sieht Hasan Dede eigentlich nicht aus. Im dunkelblauen Dreiteiler wirkt er wie ein zu bescheidenem Wohlstand gelangter Gemischtwarenhändler. Er spricht türkisch mit Balkan-Akzent, seine Ausbildung zum Derwisch hat er in einer der letzten Logen im mazedonischen Skopje erhalten. Heute gibt es nirgendwo mehr eine Mevlevi-Tekke. Dennoch hält Hasan Dede zweimal in der Woche einen"zikr" ab, das Ritual der Derwische mit religiösem Diskurs, Gebet und Tanz. Der Versammlungsort in Üsküdar, einem Hafenviertel Istanbuls, ist eine 400 Jahre alte Derwisch-Loge. Zum "zikr" versammeln sich Männer wie Frauen, Junge und Alte. Hundert Menschen lauschen den Antworten des Scheichs, der auf einem rot gefärbten Lammfell sitzt. Dies zeichnet ihn als Postnischin, als Oberhaupt, aus. Streng genommen ist das, was sie tun, verboten. Deshalb läuft die Loge offiziell unter der Bezeichnung einer Stiftung, und deshalb werden die Derwische von Konya oder Istanbul als Folklore-Attraktion geduldet. Hasan Dede reicht auch das noch nicht. Ins Gebet nimmt er vorsorglich neben dem Propheten Mohammed und dem Heiligen Mevlana eine dritte verehrungswürdige Person auf: Mustafa Kemal Atatürk, den Totengräber der islamischen Ordensgemeinschaften.
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