Ein Land ohne Lenker
Seit November ist die Türkei ohne Regierung - Parteien blockieren
sich gegenseitig
Von MARLIES FISCHER
„Laßt uns das Jahr mit einer neuen Regierung beginnen“, wünscht
sich die englischsprachige Zeitung „Turkish Daily News“. Aber bei den Politikern
in Ankara stieß dieser Appell auf taube Ohren. Bei der Suche nach
einer neuen türkischen Regierung blockieren sich die Strippenzieher
gegenseitig.Der designierte Ministerpräsident Yalim Erez lehnte es
gestern ab, den Auftrag zur Regierungsbildung zurückzugeben. Er werde
seine Bemühungen fortsetzen, ein Übergangskabinett auf die Beine
zu stellen, sagte der kurdisch-stämmige Politiker und Geschäftsmann.
Der parteilose Abgeordnete reagierte damit auf den Vorstoß der
früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die eine Regierung
unter Erez verhindern will. Der 54jährige aus der ostanatolischen
Provinz Van war nämlich in Cillers Kabinett 1995 Handels- und Industrieminister
gewesen. Als die Politikerin von der konservativen Partei des Rechten Weges
(DYP) zur Machterhaltung eine Koalition mit der mittlerweile verbotenen
islamistischen Wohlfahrtspartei (RF) von Necmettin Erbakan einging, trat
Erez aus Protest aus der DYP aus und blieb als Unabhängiger im Parlament.
Ciller warf dem Abtrünnigen Verstöße gegen die Parteidisziplin
vor und schwor Rache.
Deshalb hatte die Ex-Regierungschefin, der immer wieder Korruption
und Kontakte zur Mafia nachgesagt werden, am Montag vorgeschlagen, die
großen Parteien sollten eine Minderheitsregierung des Sozialdemokraten
Bülent Ecevit von der Demokratischen Linkspartei (DSP) unterstützen.
Noch vor wenigen Wochen hatte Ciller eine Ecevit-Regierung abgelehnt. Der
73jährige aus Istanbul, schon in den 70er Jahren dreimal türkischer
Premier, begrüßte Cillers Sinneswandel und sagte, es sei noch
nicht zu spät, eine Regierung zu bilden.
Die Türkei ist seit dem 25. November ohne legitimierte Regierung.
Damals war das Kabinett von Ministerpräsident Mesut Yilmaz von der
Mutterlandspartei (Anap) wegen angeblicher Verbindungen zur Mafia gestürzt
worden. Staatspräsident Süleyman Demirel hatte zunächst
Ecevit mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt, doch der Sozialdemokrat
mußte vor Weihnachten mangels Unterstützung aufgeben.
Anschließend ging der Regierungsauftrag an Erez. Ein Übergangskabinett
soll das Land bis zu vorgezogenen Neuwahlen am 18. April regieren.
Der Parteienstreit um die Zusammensetzung der Regierung hängt auch
mit dem Versuch der verschiedenen Lager zusammen, sich eine gute Ausgangsposition
für die Wahlen zu sichern. Die DYP hat 99 Sitze im Parlament, die
Anap 136. Stärkste Fraktion mit 144 von 550 Mandaten ist die islamistische
Tugendpartei (FP) von Recai Kutan.
Ciller hatte in diesem Zusammenhang mehrfach Staatspräsident Demirel
beschuldigt, mit der Erteilung des Regierungsauftrages an Erez die parlamentarische
Demokratie beschädigt zu haben. Eher wären sie oder Kutan an
der Reihe gewesen.
Allmählich läuft den Politikern in Ankara aber die Zeit davon:
Wenn sie sich bis zum kommenden Sonntag nicht auf ein neues Kabinett einigen
können, hat Demirel das Recht, eine allein ihm verantwortliche Regierung
zu ernennen.
Ein politisches Vakuum kann das Land am Bosporus sich ohnehin nicht
leisten. Eigentlich wollte man zu Beginn dieses Jahres ein umfangreiches
Entschuldungsprogramm auflegen, das Verhältnis zu Deutschland und
zur Europäischen Union (EU) wieder verbessern und sich als wichtigstes
Transitland für die Energie-Ressourcen in Zentral-Asien profilieren.
Hinzu kommen die Irak-Krise und der schwelende Konflikt um den Kurdenführer
Abdullah Öcalan.
Die mächtigen türkischen Generale, die sich immer als „Garant
der Republik und des Landes“ verstehen, haben bereits erklärt, die
Türkei brauche mehr denn je Stabilität, und die neue Regierung
solle so rasch wie möglich gebildet werden.
Forderungen der Armee an die Politik haben in der Türkei großes
Gewicht: 1960, 1971 und 1980 hatten die Militärs vorübergehend
die Macht an sich gerissen.