„Der Kurdenkonflikt ist nur auf zivilem Weg zu lösen“
Kurdische Kriegsdienstverweigerer geben Auskunft über die Hintergründe
ihrer öffentlichen Verweigerung des Wehrdienstes in der türkischen
Armee
Roland Röder von der Aktion 3. Welt Saar stellte den Kontakt
her und saß auch mit am Tisch: Vier türkische Staatsangehörige,
die sich an der bundesweiten Aktion im letzten Monat beteiligten, sprachen
über den Militärdienst in ihrem Land.
SZ: Können Sie zunächst allgemeine Informationen Auskünfte
zum Militärdienst in der Türkei geben?
Seyit Mehmet Genc: Der Militärdienst dauert 18 Monate. In
allen NATO-Mitgliedsstaaten sind es höchstens zwölf Monate, nur
in der Türkei ist die Dienstzeit so lang. Mit 20 Jahren werden alle
männlichen Staatsbürger eingezogen. Wer nicht zum Militär
will, dem drohen fünf Jahre Haft unter sehr schlechten Bedingungen.
SZ: Was waren die Motive für ihre Kriegsdienstverweigerung?
Emrullah Özdemir: Wir wollen mit dieser Aktion nicht die Türkei
als Staat beleidigen. Wir haben nichts gegen die Türkei, aber unsere
Forderungen sind berechtigt. Wir wollen mit dieser Aktion dagegen protestieren,
daß die Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung akzeptiert,
obwohl die UN-Menschenrechtskommission zweimal an die Türkei diesbezüglich
appelliert hat. Wir sind generell gegen den Krieg. Besonders wollen wir
uns dafür einsetzen, daß die Türkei den schmutzigen Krieg
in Kurdistan beendet. Der dauert jetzt schon 15 Jahre und hat fünf
Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Am Tag der Menschenrechte sind
da nicht nur schöne Reden gefragt, sondern auch Taten.
Roland Röder: Laut „Spiegel“-Almanach 1998 kostet der Bürgerkrieg
im Südosten der Türkei nach offiziellen Angaben täglich
30 Millionen Mark!
SZ:Waren Sie selbst auch schon vom Krieg betroffen?
Abdullah Örum: Ich stamme aus dem Dorf Düzova. 1993 hatten
sich drei Befreiungskämpfer in unserem Ort versteckt. Das Militär
besetzte das Dorf, die drei Guerilla-Kämpfer begingen daraufhin Selbstmord.
Damit war es aber noch nicht beendet. Zur Strafe hat die Armee das Dorf
mit Raketen beschossen. Die Hälfte der Häuser wurde zerstört.
Meiner Mutter wurde die Erschießung angedroht. Die Soldaten
haben Einwohner des Dorfes auf einen Platz geführt, sie dort gefesselt
und mißhandelt.
SZ: Bedeutet der Militärdienst automatisch einen Einsatz im Krisengebiet
im Südosten?
Vezir Düz: Es gibt in der türkischen Armee keine Möglichkeit,
sich einem Befehl zu widersetzen. Ich selbst habe meinen Musterungstermin
nicht wahrgenommen. Daraufhin wurde ich von Soldaten verhaftet. Zur
Strafe mußte ich die Grundausbildung unter sehr harten Bedingungen
im Kurdengebiet bei Sivas ableisten. Zur Waffenausbildung ging ich nach
Cannakale an der bulgarischen Grenze. Zum Abschlußerhielten wir Waffen
und Munition. Von über 2000 Soldaten in der Kaserne sollten 400 in
der Südosttürkei eingesetzt werden, darunter 50 Kurden. Ich sollte
in die Bergregion um Hakkari versetzt werden, wo die heißesten Kämpfe
toben.
SZ: Was gab für Sie den Ausschlag, zu desertieren?
Vezir Düz: Zunächst wollte ich mich gegen die Versetzung
weigern. Unser Vorgesetzter hat uns massiv unter Druck gesetzt und bedroht.
Nach einer „Bedenkzeit“ von zehn Tagen hat mich der Vorgesetzte wieder
zu sich zitiert. Wieder setzte er mich stark unter Druck und drohte
mir mit dem Tod. Aus Angst habe ich der Versetzung zugestimmt. Eine
Woche vor dem geplanten Termin bin ich während einer Übung im
Wald geflohen. Ich habe meine Waffe vergraben und bin zunächst bei
einer Familie in Istanbul untergetaucht. Aber das Militär spürte
mich dort auf. Daraufhin bin ich nach Deutschland geflohen.
SZ: Welche Strafe droht Deserteuren in der Türkei?
Vezir Düz: Schon für das Vergraben der Waffe gibt es eine
lange Haftstrafe, auf Desertion droht die Todesstrafe. Auch Kriegsdienstverweigerer
werden immer wieder und immer schärfer inhaftiert.
SZ: Wie denken die türkischen Soldaten in der Armee über
den Krieg im Kurdengebiet?
Emrullah Özdemir: Viele junge Türken tauchen ab, um sich
dem Militärdienst zu entziehen. Nach offiziellen Angaben des türkischen
Verteidigungsministeriums verweigern sich bis zu 300 000 Leute auf diese
Weise dem Dienst mit der Waffe. Die tatsächlichen Zahlen liegen aber
sicherlich höher. Es gibt innerhalb der Armee verschiedene Strömungen.
So sind etwa Rechtsextreme beim Militär stark vertreten, sie befürworten
den Krieg gegen die Kurden. Die eher demokratisch eingestellten Türken
wollen sich nicht am Krieg beteiligen. Viele haben Angst vor einem Einsatz
im Kurdengebiet.
SZ: Haben Sie schon von Reaktionen auf ihre Verweigerung erfahren?
Roland Röder: Offiziell gibt es zwar keine Reaktionen, aber wir
haben erfahren, daß die Aktion inoffiziell ein starkes Echo gefunden
hat. In der Türkei selbst wächst die Distanz der Bevölkerung
zur Armee, was immer weitere Kreise zieht.
Emrullah Özdemir: Wir wollten ein Zeichen setzen. Wir hoffen,
daß unsere Aktion ein Beispiel abgeben wird. Es sind jetzt für
jedes Jahr zwei oder drei weitere Aktionen geplant. Viele Leute in der
Türkei haben es satt, den Krieg weiter zu unterstützen.
SZ: Sehen Sie eine Chance, den Kurdenkonflikt mittelfristig zu lösen?
Emrullah Özdemir: Unser zentrales Ziel ist es, die Schwarzweißmalerei
in dieser Geschichte aufzubrechen. Der Kurdistan-Konflikt ist militärisch
nicht zu lösen. Eine endgültige Lösung ist nur durch eine
internationale Konferenz denkbar. Bei vielen Guerilla-Konflikten auf der
Welt ist in letzter Zeit einiges in Bewegung gekommen. Wir hoffen, daß
das auch bei diesem Konflikt möglich sein wird. Ein erster Schritt
dazu wäre eine Änderung der türkischen Militärpolitik.
Die Türkei soll endlich das Recht zur Kriegsdienstverweigerung einführen.
Das würde zu einer Zivilisierung des Konfliktes beitragen.
Seyit Mehmet Genc: Wir rufen andere Jugendliche, auch Deutsche, zur
Kriegsdienstverweigerung auf. Krieg ist ein Verbrechen. Unsere Solidarität
gilt auch den Inhaftierten in der Türkei, die sich seit Jahren für
Frieden einsetzen und dafür im Gefängnis sitzen. Die Waffen müssen
endlich schweigen, der Konflikt kann nur politisch gelöst werden.
Das Interview führte Christian Beckinger.