Aus Angst untergetaucht
Kriegsdienstverweigerung in der türkischen Armee
Wenn man im Fernsehen Bilder aus den Krisenregionen der Welt sieht,
ist das weit weg. Doch die Folgen solcher Kriege sieht man direkt vor unserer
Haustür. Einige junge Kurden verweigerten öffentlich den Kriegsdienst
in der türkischen Armee. Sie wollen nicht auf ihre Landsleute schießen.
Seit 15 Jahren herrscht Bürgerkrieg im Südosten der Türkei.
Das türkische Militär geht dort mit massiver Gewalt gegen die
Befreiungskämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. Die Kurden
forderten jahrelang einen eigenen Staat, sind aber von dieser Forderung
abgerückt.
Vor kurzem verweigerten in einer bundesweiten Aktion anläßlich
des Tags der Menschenrechte 20 türkische Staatsbürger aus mehreren
Bundesländern den Kriegsdienst mit der Waffe in der türkischen
Armee, darunter auch zwei junge Türken Saarlouis. Im Saarland waren
sechs junge Männer an der Aktion beteiligt, die ihre Verweigerung
öffentlich im Gebäude des saarländischen Landtages erklärten.
In der Türkei ist Kriegsdienstverweigerung verboten und wird mit hohen
Haftstrafen geahndet.
Die Aktion 3. Welt Saar in Losheim, die die Initiative der Wehrdienstverweigerer
unterstützt, stellte den Kontakt zu vier der Beteiligten her, die
stellvertretend für alle Kriegsdienstverweigerer sprachen.Seyit Mehmet
Genc war monatelang illegal im Saarland untergetaucht, nachdem ihm die
Abschiebung in die Türkei drohte. Emrullah Özdemir machte von
sich reden, weil seine Mitschüler am Waderner Hochwaldgymnasium in
einer Unterschriftenaktion gegen die Abschiebung protestierten und sich
die Aktion 3. Welt Saar für seine Familie einsetzte. Mit am Tisch
saß auch Abdullah Örüm aus Dillingen, der im Krisengebiet
lebte und über den alltäglichen Terror dort berichtete. Aus Rheinland-Pfalz
war Vezir Düz zu der Gesprächsrunde gekommen. Er hatte seinen
Militärdienst in der Türkei bereits begonnen, war aber aus Furcht
vor einem Einsatz im Kurdengebiet desertiert. Dafür droht ihm nun
in seinem Mutterland eine sehr harte Strafe.
Ebenfalls bei dem Gespräch dabei war Roland Röder von der
Aktion 3. Welt Saar, der den Kontakt zu den Kriegsdienstverweigerern arrangiert
hatte. cb
Unter Todesdrohung desertiert
Viele junge Türken sind nicht mehr bereit, den Dienst an der
Waffe zu verrichten
Jump sprach mit vier der jungen Türken, die vor kurzem öffentlich
den Kriegsdienst in der türkischen Armee verweigerten.
JUMP: Können Sie zunächst allgemeine Informationen Auskünfte
zum Militärdienst in der Türkei geben?
Seyit Mehmet Genc: Der Militärdienst dauert 18 Monate. In
allen NATO-Mitgliedsstaaten sind es höchstens zwölf Monate, nur
in der Türkei ist die Dienstzeit so lang. Mit 20 Jahren werden alle
männlichen Staatsbürger eingezogen. Wer nicht zum Militär
will, dem drohen fünf Jahre Haft unter sehr schlechten Bedingungen.
JUMP: Was waren die Motive für ihre Kriegsdienstverweigerung?
Emrullah Özdemir: Wir wollen mit dieser Aktion nicht die Türkei
als Staat beleidigen. Wir haben nichts gegen die Türkei. Wir wollen
nur dagegen protestieren, daß die Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung
akzeptiert, obwohl die UN-Menschenrechtskommission zweimal an die Türkei
diesbezüglich appelliert hat.
JUMP: War einer von Ihnen auch schon selbst von den Auseinandersetzungen
in Kurdistan betroffen?
Abdullah Örum: Ich stamme aus dem Dorf Düzova. 1993 hatten
sich drei Befreiungskämpfer in unserem Ort versteckt. Das Militär
besetzte das Dorf, die drei Guerilla-Kämpfer begingen daraufhin Selbstmord.
Damit war es aber noch nicht zu Ende. Zur Strafe hat die Armee das Dorf
mit Raketen beschossen. Die Hälfte der Häuser wurde zerstört.
Meiner Mutter wurde die Erschießung angedroht. Die Soldaten
haben Einwohner des Dorfes auf einen Platz geführt, sie dort gefesselt
und mißhandelt.
JUMP: Bedeutet der Militärdienst automatisch einen Einsatz im
Krisengebiet im Südosten?
Vezir Düz: Es gibt in der türkischen Armee keine Möglichkeit,
sich einem Befehl zu widersetzen. Ich selbst habe meinen Musterungstermin
nicht wahrgenommen. Daraufhin wurde ich von Soldaten verhaftet. Zur
Strafe mußte ich die Grundausbildung unter sehr harten Bedingungen
im Kurdengebiet bei Sivas ableisten. Von über 2000 Soldaten in der
Kaserne sollten 400 in der Südosttürkei eingesetzt werden, darunter
50 Kurden. Ich selbst sollte in die Bergregion um Hakkari versetzt werden,
wo die heißesten Kämpfe toben.
JUMP: Was gab für Sie den Ausschlag, zu desertieren?
Vezir Düz: Zunächst wollte ich mich gegen die Versetzung
weigern. Unser Vorgesetzter hat uns massiv unter Druck gesetzt und bedroht.
Nach einer „Bedenkzeit“ von zehn Tagen hat mich der Vorgesetzte wieder
zu sich zitiert. Wieder setzte er mich stark unter Druck und drohte
mir mit dem Tod. Aus Angst habe ich der Versetzung zugestimmt. Eine
Woche vor dem geplanten Termin bin ich während einer Übung im
Wald geflohen. Ich habe meine Waffe vergraben und bin zunächst bei
einer Familie in Istanbul untergetaucht. Aber das Militär spürte
mich dort auf. Daraufhin bin ich nach Deutschland geflohen.
JUMP: Welche Strafe droht Deserteuren in der Türkei?
Vezir Düz: Schon für das Vergraben der Waffe gibt es eine
lange Haftstrafe, auf Desertion droht die Todesstrafe. Die Kriegsdienstverweigerer
werden in den meisten Fällen inhaftiert.
JUMP: Wie denken die türkischen Soldaten in der Armee über
den Krieg im Kurdengebiet?
Emrullah Özdemir: Viele junge Türken tauchen einfach ab,
um sich so dem Militärdienst zu entziehen. Nach offiziellen Angaben
des türkischen Verteidigungsministeriums verweigern sich bis zu 300
000 Leute auf diese Weise dem Dienst mit der Waffe. Die tatsächlichen
Zahlen liegen jedoch sicherlich höher.
JUMP: Haben Sie schon von Reaktionen auf ihre Verweigerung erfahren?
Roland Röder: Offiziell gibt es zwar keine Reaktionen, aber wir
haben erfahren, daß die Aktion inoffiziell ein starkes Echo gefunden
hat. In der Türkei selbst wächst die Distanz der Bevölkerung
zur Armee, was immer weitere Kreise zieht.
Emrullah Özdemir: Wir wollten ein Zeichen setzen. Wir hoffen,
daß unsere Aktion ein Beispiel abgeben wird. Es sind jetzt für
jedes Jahr zwei oder drei weitere Aktionen geplant. Viele Leute in der
Türkei haben es satt, den Krieg weiter zu unterstützen.
JUMP: Sehen Sie eine Chance, den Kurdenkonflikt mittelfristig zu lösen?
Emrullah Özdemir: Unser zentrales Ziel ist es, die Schwarzweißmalerei
in dieser Geschichte aufzubrechen. Der Kurdistan-Konflikt ist militärisch
nicht zu lösen. Eine endgültige Lösung ist nur durch eine
internationale Konferenz denkbar. Bei vielen Guerilla-Konflikten auf der
Welt ist in letzter Zeit einiges in Bewegung gekommen. Wir hoffen, daß
das auch bei diesem Konflikt möglich sein wird.
Ein erster Schritt dazu wäre eine Änderung der türkischen
Militärpolitik. Seyit Mehmet Genc: Wir rufen andere Jugendliche, auch
Deutsche, zur Kriegsdienstverweigerung auf. Krieg ist ein Verbrechen. Unsere
Solidarität gilt auch den Inhaftierten in der Türkei, die sich
seit Jahren für Frieden einsetzen und dafür im Gefängnis
sitzen. Die Waffen müssen endlich schweigen, der Konflikt kann nur
politisch gelöst werden
Das Interview führte Christian Beckinger