Suche nach den „Verschollenen“
In der Türkei gehen die Samstags-Mütter trotz eines Demonstrationsverbots
für ihre Söhne auf die Straße
Von Cancan Topçu
Hastig gestikuliert Emine Ocak. Zwischendurch zupft sie ihr schwarzes
Kopftuch zurecht. Die grauhaarige Frau spricht aufgeregt, hört plötzlich
auf und blickt verzweifelt in die Kamera. Ein deutsches Fernsehteam bereitet
eine Sendung über die als „Samstag-Mütter“ bekanntgewordene Gruppe
vor. Die Samstag-Mütter machen den Staat für das Verschwinden
ihrer Angehörigen verantwortlich und fordern Aufklärung.
Wer wäre besser geeignet als die Mutter von Hasan Ocak, das Anliegen
der Samstag-Mütter vorzutragen? Die 63jährige, deren Sohn von
den türkischen Sicherheitskräften im Frühjahr 1995 ermordet
wurde, ist die Initiatorin der Protestaktion. Unterstützt durch das
Istanbuler Büro des Menschenrechtsvereins (IHD) begann Emine Ocak
mit dem Sit-in am Galatasaray-Park in Beyoglu, einem der belebtesten Geschäftsviertel
Istanbuls. Das war am 19. Dezember 1998.
Schon nach kurzer Zeit schlossen sich ihr andere Mütter, Ehefrauen
und Verwandte von „Verschollenen“ an. Ob Sonne oder Regen, ob Schnee oder
Wind - von der Witterung ließen sie sich nicht abhalten und sammelten
sich mit Bildern der Verschwundenen auf dem kleinen Platz.
Immer wieder wenden sich Verwandte von Vermißten hilfesuchend
an den IHD. „Auffällig ist, daß es sich bei den Verschwundenen
zum Großteil um Personen aus dem linken politischen Lager handelt
- oder daß sie sich für die Rechte des kurdischen Volkes engagierten“,
erklärt Saban Savurur vom IHD Istanbul. Einem Bericht von amnesty
international (ai) zur Folge sind seit Beginn der neunziger Jahre in der
Türkei mehr als 200 Menschen verschollen. Manchmal tauchen die Leichen
am Straßenrand auf oder - wie im Fall von Hasan Ocak - auf Friedhöfen
für Unbekannte.
Anders als in den Jahren zuvor, in denen die zuständigen Behörden
vehement bestritten, daß die von der Polizei oder Gendarmerie festgenommenen
Frauen und Männer verschwinden, heißt es in offiziellen Erklärungen
inzwischen, daß der Staat nicht systematisch gegen Oppositionelle
vorgehe. Vereinzelt käme es leider doch vor, daß Polizeibeamte
eigenmächtig handelten. „Selbstverständlich verfolgen wir diese
Fälle genau und ziehen die Schuldigen zur Rechenschaft“, erklärt
der Sprecher des für Menschenrechte zuständigen Staatsministers.
Ab Januar 1999 sollen Polizeireviere sogar mit Videokameras ausgestattet
sein: Eine Maßnahme, um gegen Beamte vorgehen zu können, „die
so heftig zur Tat schreiten, daß dabei manch einer ums Leben kommt“.
Unter welchen Umständen ihr Sohn starb, weiß Emine Ocak
nicht. Die Kurdin hat viel zu sagen - nur fehlen ihr manchmal die Worte.
Denn der türkischen Sprache ist sie nicht ganz mächtig. Vom Türkischen
ins Kurdische wechselnd berichtet die Mutter. Am 21. März 1995 verschwand
ihr Sohn. Wochenlang suchte sie nach Hasan - vergeblich. In den Amtsstuben
wurde der kurdischen Frau nicht geholfen. Erst durch einen anonymen Hinweis
fand die Familie den Vermißten - auf dem Istanbuler Friedhof für
Unbekannte. Die Autopsie ergab, daß es sich tatsächlich um den
Leichnam des 30jährigen handelte und daß er an den Folgen der
Folter starb.
Regelmäßig berichten linke und liberale türkische Medien
über den Protest der Samstag-Mütter. „Die Medien sind schuld
daran, daß die Leute immer noch demonstrieren wollen. Wer Suchmeldungen
aufgeben will, soll sich an uns wenden“, erklärt Ercüment Yilmaz
vom Polizeikommissariat Beyoglu. Der Kommissar hat kein Verständnis
dafür, daß diese Menschen der Polizei mißtrauen und den
Staat für das Verschwinden ihrer Angehörigen verantwortlich machen.
In scherzhaften Ton, aber durchaus ernst gemeint, schlägt der
Einsatzleiter den am Galatasaray-Platz versammelten Journalisten einen
Handel vor: „Ihr hört auf, darüber zu berichten, und wir lassen
euch in Ruhe.“ Und während der Polizeibeamte mit den Reportern spricht,
werden in einem Wagen mehrere Demonstranten abgeführt - zu spät,
um mit Kameras die Festnahme festzuhalten. „Sie haben uns wieder reingelegt“,
murmelt ein Fotograf. Bilder vom Protest der Samstag-Mütter kann das
deutsche Kamerateam an diesem Tag auf dem Galatasaray-Platz nicht einfangen.
Stunden vorher hat die Polizei, die mit Hunderten Beamten vor Ort ist,
Barrieren errichtet und läßt die Demonstranten nicht durch.
Weder Solidaritätsbekundungen prominenter türkischer Kulturschaffender
noch die Proteste ausländischer Menschenrechtsorganisationen halten
die Sicherheitskräfte davon ab, gegen die Demonstranten vorzugehen.
So hat sich Emine Ocak nicht nur an Interviews, sondern auch an Verhöre
gewöhnt. Sie weiß nicht einmal mehr, wie oft sie in Polizeigewahrsam
genommen wurde. In den vergangenen drei Jahren haben die Regierungen mehrmals
gewechselt - ihre Haltung gegenüber den Samstag-Müttern hingegen
nicht. Einen Wechsel gibt es lediglich in der Taktik der Polizei.
Mit Tränengas, Wasserwerfern oder weitläufiger Absperrung des
Platzes werden die Protestkundgebungen immer wieder verhindert. In jüngster
Zeit nimmt die Polizei die Frauen und Männer direkt vor dem Gebäude
des Menschenrechtsvereins fest - noch bevor sich die Gruppe auf dem Weg
zum Galatasaray-Platz machen kann.
„Demonstrationen sind dort verboten - so ist der Beschluß des
Ministerrats“, erklärt Yilmaz. Er sei lediglich dafür verantwortlich,
daß diese Anordnung eingehalten werde - auch damit sich Geschäftsleute
nicht beschwerten. Doch das scheint nur eine vorgeschobenes Argument zu
sein. „Wenn alles friedlich verläuft, spüren wir keinerlei
Einbußen. Die Kunden bleiben eher wegen des zu großen Polizeiaufgebots
und der ständigen Ausweiskontrollen weg“ - lautet der Tenor der Ladeninhaber
rund um den Galatasaray-Platz.
„Demonstrationen für die Auslieferung des PKK-Führers Abdullah
Öcalan werden aber nicht verhindert werden“, berichtet Saban Savurur
vom IHD Istanbul. Der Menschenrechtler macht darauf aufmerksam, daß
sich seit Anfang November Hunderte Menschen mit rechter Gesinnung in der
geschäftigen Einkaufsstraße versammeln und nationalistische
Parolen schreien, ohne daß die Polizei einschreite und die Menge
auflöse.
Der eigentliche Grund für das Demonstrationsverbot der Samstag-Mütter
wird im Innenministerium „off-record“ erklärt. Die türkische
Menschenrechtsorganisation IHD, die den Protest der Samstag-Mütter
koordiniert, sei ein verlängerter Arm der kurdischen Terrororganisation
PKK. „Wer hier vorgibt, sich für Menschenrechte einzusetzen, setzt
sich für die PKK ein und will die Türkei ins schlechte Licht
stellen.“
Weil ihnen der Weg zum Galatasaray-Platz versperrt wird, der zu einer
symbolischen Grabstelle geworden ist, geben die Samstag-Mütter jetzt
ihre wöchentliche Presseerklärung vor dem Eingang des Istanbuler
IHD-Büros ab. Sie fragen weiter nach dem Verbleib ihrer Angehörigen.
„Ich weiß jetzt, wo das Grab meines Sohnes ist und kann dort zu ihm
sprechen“, erklärt Emine Ocak vor der Kamera. Aus Solidarität
mit denen, die im Ungewissen über den Verbleib ihrer Angehörigen
sind, will sie weiter an der Protestaktion teilnehmen - auch wenn sie nicht
am Galatasaray-Platz stattfinden dürfen.