„Türkei will Öcalan nicht mehr“
Zeitung: Militärs in Ankara nennen politische Gründe
Von Sigrid Averesch
ROM/BERLIN, 10. Januar. Die Türkei will nach einem Bericht der
italienischen Zeitung „La Repubblica“ angeblich nicht mehr, daß der
in Rom festgesetzte Kurdenführer Abdullah Öcalan in ihr Land
ausgeliefert wird. „Es wäre zu gefährlich, ihn auf unserem Territorium
zu haben“, berichtete die Zeitung am Sonntag unter Berufung auf Quellen
des türkischen Außenministeriums. Formal liege eine solche Entscheidung
nicht vor, auch werde dies Rom niemals in dieser Form mitgeteilt werden,
wird betont. Ankara hat offiziell einen Auslieferungsantrag gestellt.
Für die veränderte Haltung der türkischen Regierung
werden politische Erwägungen angeführt. „Es wäre besser,
sehr viel besser, wenn er (Öcalan) verbannt oder sich zurückziehen
würde, weit weg vom Mittelmeer, vielleicht nach Nordkorea“, heißt
es. Ein türkischer Militärchef wird mit den Worten zitiert: „Wir
haben gar nicht so viel Lust, Öcalan hierzuhaben.“ Denn in der Türkei
würde der 49jährige entweder hingerichtet, was zu weltweiten
Protesten, „einem Desaster“, führen könnte. „Oder wir inhaftieren
ihn und machen ihn so zu einem lebenden Märtyrer. Besser er verschwindet.“
Der Chef der in der Türkei und in Deutschland verbotenen kurdischen
Arbeiterpartei PKK wurde am 12. November auf dem Flughafen in Rom festgenommen.
Er steht in einem Haus in Ostia bei Rom unter Bewachung. Der 49jährige
verlangt für eine sogenannte einvernehmliche Abschiebung Garantien
zu seiner Sicherheit. Er fürchtet Anschläge. Von einer Auslieferung
wurde bislang abgesehen, da ihm in der Türkei die Todesstrafe droht.
Die Regierung in Ankara macht Öcalan für die rund 30 000 Tote
verantwortlich, die der Bürgerkrieg in Ostanatolien seit 1984 forderte.
Deutschland hat trotz eines internationalen Haftbefehls wegen Mordes auf
eine Überstellung verzichtet.
Prozeß in Rom gegen Völkerrecht
Ob der Kurdenführer in Italien vor Gericht gestellt werden kann,
wird unterschiedlich bewertet. Die Anwälte Öcalans halten einen
Prozeß aus völkerrechtlicher Sicht für nicht möglich.
Zwar bestehe theoretisch die Möglichkeit, ein Strafverfahren auf der
Grundlage der europäischen Anti-Terror-Konvention von 1977 einzuleiten,
nach der sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet haben, Terroristen
auszuliefern oder diese in ihrem eigenen Land vor Gericht zu stellen. Aber
diese Konvention sei auf die Vorwürfe aus der Türkei gegen Öcalan
nicht anwendbar, heißt es in der Mitteilung der Bremer Anwaltskanzlei
Schultz und Reimers.
„Die angeblichen Straftaten erfüllen nicht den Begriff einer terroristischen
Handlung, wie er in der europäischen Konvention vorausgesetzt ist“,
lautet die Begründung der Juristen. Die Öcalan vorgeworfenen
Straftaten hätten in einem Krieg zwischen dem türkischen Militär
und der PKK stattgefunden, im Rahmen eines internen Konflikts „in Ausübung
des Selbstbestimmungsrechts“. Damit widerspreche die Einrichtung eines
Strafgerichts ausschließlich zur Aburteilung des PKK-Führers
dem 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen über den Schutz der
Opfer nicht internationaler Konflikte. Diese UN-Konvention habe Vorrang
vor der europäischen Konvention.
Der italienische Anwalt Öcalans, Giuliano Pisapia, vertrat nach
Presseberichten die Meinung: „Ein Prozeß in Italien ist wahrscheinlich,
würde sich aber lange hinziehen und wäre schwierig.“ Auch seien
die Anklagepunkte „extrem fragil“.
Die Anwälte Öcalans betonen erneut, daß der Kurdenführer
sich einem internationalen Kriegsverbrechertribunals nach dem Vorbild der
Gerichte für Ex-Jugoslawien stellen wolle. Dann müßten
auch die Straftaten des türkischen Militärs angeklagt und verhandelt
werden. Die Juristen fordern abermals eine Kurdenkonferenz, um einen Friedensprozeß
ähnlich dem in Irland oder Palästina einzuleiten. (mit dpa)