TÜRKEI
Hier lebt niemand mehr
Militärisch ist die kurdische Arbeiterpartei PKK weitgehend besiegt.
Doch in den kurdischen Hochburgen bleibt der Haß auf Ankara, Öcalan
ist auch im Exil populärer denn je.
Der Schafhirt Riza war der vorletzte Bewohner des Dörfchens Fis.
Als er starb, dauerte es Tage, bis die Nachricht zu den Verwandten in die
Provinzhauptstadt Diyarbakir kam.
Sein Vetter Ahmet rief die ganze Familie zusammen, Brüder, Schwestern,
Kinder und Enkel des Toten, gut 40 Leute insgesamt, packte sie alle auf
seinen Lastwagen und fuhr hinüber ans östliche Tigrisufer, vorbei
an zwei Armeeposten und 80 Kilometer hinauf in die Berge von Lice.
Einen Friedhof gibt es nicht mehr in Fis. Der Nachbar Abdullah hatte
den alten Riza gleich neben der Straße begraben. Am Rand des verlassenen
Dorfs stehen zwei Schützenpanzer der türkischen Armee, die aus
früheren DDR-Beständen stammen. Alle paar Minuten fährt
ein Jeep der Gendarmerie vorbei. Die Trauernden sagen die Totensure für
Riza auf.
Den türkischen Kurden gilt Fis als ein besonderer Ort, er ist
symbolischer Mittelpunkt ihrer rebellischen Geschichte. Vor über 20
Jahren, am 27. November 1978, wurde hier die marxistische Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) gegründet, und seit 1984 tobt im Südosten Anatoliens
der längste und zeitweilig auch erfolgreichste Kurden-Aufstand in
der Geschichte der Türkei.
Ist nach der Flucht des PKK-Führers Abdullah Öcalan die Flamme
der Rebellion im Herzen Türkisch-Kurdistans erloschen? So hätte
es die offizielle Türkei gern.
Vor zwei Monaten, als Öcalan auf dem Flughafen von Rom festgehalten
wurde, feierten die Türken, als hätten sie einen ihrer größten
Siege errungen. Überall im Land wurde gegen den PKK-Chef demonstriert,
und auch das vergessene Fis geriet wieder in die Schlagzeilen.
„Sogar in seinem eigenen Dorf verfluchen sie ihn!“ überschrieb
„Hürriyet“ ein Bild, das einen Protestzug mit türkischen Flaggen
zeigte der hatte sich allerdings nicht in Fis formiert, wo ja niemand
mehr lebt, sondern in der 15 Kilometer entfernt liegenden Kreisstadt Lice.
Der dortige Bürgermeister hatte ein paar hundert Teilnehmer zusammentreiben
lassen, Polizisten begleiteten den Marsch und schickten alle, die sich
in Hauseingängen und Brückenunterführungen verdrücken
wollten, auf die Straße zurück.
Militärisch mag die türkische Armee die PKK weitgehend geschlagen
haben nach 30 000 Toten auf beiden Seiten , aber innerlich stehen
die Menschen noch immer hinter Öcalan, der für sie eine lange
Tradition kurdischer Freiheitskämpfer fortsetzt.
Im Februar 1925, die Republik war noch keine zwei Jahre alt, sammelten
sich in der Talsenke von Fis die Truppen des Kurdenscheichs Said von Palu,
um nach Diyarbakir zu marschieren und den Gouverneur zu vertreiben. Staatsgründer
Atatürk ließ den Aufstand blutig niederschlagen. Der Scheich
und 700 seiner Getreuen wurden gehenkt, das Gebiet blieb 40 Jahre lang
Militärzone was es auch heute wieder ist.
Im Winter 1937/38 erhoben sich in der Nachbarprovinz Dersim abermals
zwei Kurdenstämme. Ankara ging mit Gasbomben, Artillerie und 50 000
Soldaten gegen die Rebellen vor; der Geschützlärm war bis Fis
zu hören. Zehntausende Aufständische wurden deportiert oder getötet,
die kurdische Kernprovinz Dersim erhielt den türkischen Namen Tunceli.
Keine 300 Meter von Rizas Grabstelle entfernt ragt das Skelett eines
massiven Steinhauses aus den Trümmern von Fis. Es hat früher
dem Landbesitzer Seyfettin Zoroglu gehört, der inzwischen eine sagenhafte
Heldenfigur geworden ist.
Ende der siebziger Jahre trafen sich junge Linksradikale und kurdische
Nationalisten bei Seyfettin, unter ihnen der Student Abdullah Öcalan
aus Ankara. Zusammen mit seiner damaligen Frau Kesire und fünf weiteren
Vertrauten gründete Öcalan in diesem Haus die PKK und ernannte
sich selbst zum Generalsekretär. „Wir haben von dem Treffen damals
nichts mitbekommen“, sagt einer aus Rizas Familie. „Es muß alles
sehr geheim abgelaufen sein.“Erst Monate später, als Seyfettin plötzlich
in die Berge verschwand, verstanden die Dorfbewohner, daß der Kampf
der PKK begonnen hatte.
Trotz seines Rufs als Rebellennest überstand Fis die ersten zehn
Jahre des neuen Krieges fast unberührt. Während Armee und Polizei
3000 Dörfer im Südosten entvölkerten, um die PKK-Freischärler
zu isolieren, konnten die Bauern von Fis weiter ihre Felder bestellen.
„Wir standen zwar dauernd unter Bewachung“, sagt einer, „aber wir waren
zu Hause.“
Bis zum Oktober 1994. „Da kamen eines Morgens die Gendarmen“, erzählen
die Männer. „Es ging ganz schnell. Fis wird aufgelöst, haben
die Soldaten gesagt, ihr verschwindet hier.“
Mehr als 130 Familien wurden vertrieben, die meisten Häuser zerstört.
Nur ein paar Alte, unter ihnen der Schäfer Riza, blieben zurück.
Der Rest suchte in den Slums von Diyarbakir Zuflucht. Der größte
Teil ist heute arbeitslos. „Es ist ein Jammer“, sagt der Lkw-Fahrer Ahmet.
„Das Tal ist so fruchtbar, jeder Baum kann einen Menschen ein Jahr lang
ernähren.“
Bis Ende 1996 war Fis gesperrt, die Felder lagen brach, noch intakte
Häuser verfielen. Riza und sein letzter verbliebener Nachbar Abdullah
zogen schließlich in Zelte um. „Es ist nicht so, daß ich dauernd
Ärger habe mit den Soldaten“, sagt Abdullah, 70, „aber ich muß
halt seit vier Jahren jeden Tag nachmittags um vier, wenn die Sperrstunde
beginnt, die Schafe allein grasen lassen und mich auf meine Pritsche legen.“
Aus dem römischen Exil, in dem sich Öcalan wie Arafat vom
Revolutionär zum Staatsmann wandeln möchte, lockt und droht der
PKK-Chef zugleich. Er verspricht Frieden, wenn die türkische Regierung
ihn als Verhandlungspartner anerkenne, und Krieg, wenn man ihm weiter nach
dem Leben trachte: „Den Frieden verwirklichen können nur diejenigen,
die bereit waren, auch für ihn zu kämpfen. Das habe ich getan.
Man kann meine Persönlichkeit, meine Identität nicht von der
Kurdenfrage trennen.“
Das klingt nach der Hybris eines Besessenen und ist dennoch nicht falsch.
In einer 1995 von der Türkischen Börsenvereinigung in Auftrag
gegebenen und bis heute einzigartigen Studie über die politische Einstellung
der türkischen Kurden erklärten sich 46 Prozent der Befragten
mit den Zielen der PKK einverstanden, 75 Prozent bestritten, daß
der Staat Öcalans Kämpfer je besiegen könne.
Die Erhebung war auf die Südostprovinzen Diyarbakir, Batman und
Mardin konzentriert; 34 Prozent der Befragten gaben zu, daß Verwandte
von ihnen reguläre PKK-Mitglieder seien. Gut 42 Prozent sprachen sich
für eine türkisch-kurdische Föderation aus, in den Flüchtlingsslums
der Großstädte verlangten 71 Prozent offen einen unabhängigen
Kurdenstaat.
Die türkische Presse beschimpfte die Organisatoren der Umfrage
als CIA-Agenten, Verräter und Linksextremisten. Aber es ist kaum anzunehmen,
daß sich die Meinung der Kurden in den vergangenen drei Jahren zugunsten
Ankaras verändert hat. Die von Politik und Armee geschürte Landflucht
hält an, das Elendsproletariat in den Städten wächst weiter.
„Vor ein paar Jahren haben wir in Fis noch selbst Obst angebaut, heute
sind wir froh, wenn wenigstens einer von uns auf dem Markt von Diyarbakir
eine Stelle als Obstfahrer bekommt“, klagt Ahmet.
Er zählt sich zu den Gemäßigten, doch seine Forderungen
decken sich mit Öcalans Minimalprogramm einer „politischen Lösung“:
Aufhebung des Ausnahmezustands und Rückkehr der Zwangsdeportierten,
das Ende des Dorfschützer-Systems einer Art Konterguerrilla
, kurdisches Fernsehen und Radio, Kurdisch zumindest als Wahlfach
an den Schulen.
Daß die Organisation noch zu Guerrilla-Aktionen imstande ist,
bekam Ankara seit der Festnahme Öcalans mehrmals zu spüren: Ende
November 1998 schossen PKK-Kämpfer in der Provinz Hakkari einen Armeehubschrauber
ab, 16 Soldaten kamen ums Leben. 5 Tote und 30 Verletzte forderte seither
eine Serie von Selbstmordanschlägen.
Noch immer können sich Vertreter des türkischen Staates im
Kurdengebiet ihres Lebens nicht sicher fühlen. Zur Einweihung mehrerer
Volksschulen in der Provinz ¸Sirnak bricht der Staatsminister für
den wirtschaftlichen Aufbau des Südostens im Armeekonvoi auf.
Während der Minister und sein Gefolge vor dem neuen Schulgebäude
des Dörfchens Pinarbasi an der syrischen Grenze die Nationalhymne
anstimmen, wuseln die Kinder zwischen den bewaffneten Posten herum. Der
kurdische Teil der Bevölkerung wächst fast doppelt so schnell
wie der türkische. In 30 Jahren, hat der Nationale Sicherheitsrat
in Ankara ausrechnen lassen, wird es mehr Kurden als Türken geben
in der Türkei.
BERNHARD ZAND