TAZ  12.01.1999

Mehr Beschwerden bei Menschenrechtsgericht

Straßburg (AFP) -
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat 1998 insgesamt 5.981 Beschwerden von Bürgern wegen Grundrechtsverletzungen registriert - 26 Prozent mehr als im Vorjahr. Wie ein Sprecher gestern erläuterte, wurden im vorigen Jahr 106 Urteile gefällt. Gegen Italien gingen 1.101 Beschwerden, gegen die Türkei 729, gegen Frankreich 643 und gegen die deutsche Regierung 299 ein.


Frankfurter Rundschau, 12.01.1999

Immer mehr Osteuropäer klagen in Straßburg Menschenrechte ein
Gerichtshof des Europarats registriert aber die meisten Fälle aus Italien, der Türkei und Frankreich / Lange Verfahren
Von Karl-Otto Sattler
Eine „dramatische Zunahme“ der Klagen hat der Menschenrechts-Gerichtshof des Europarats registriert. Bei der Vorlage der Jahresbilanz 1998 sagte der Sprecher des Gerichtshofs, Paul Mahoney, am Montag in Straßburg, die mehr als 16 000 Beschwerden aus 40 Mitgliedsländern markierten einen neuen Rekord.
STRASSBURG, 11. Januar. Vor allem Bürger aus Ländern des früheren Ostblocks würden sich zunehmend ihres Rechts bewußt, in Straßburg gegen die Verletzung ihrer Menschenrechte zu klagen, sagte Mahoney.  Osteuropäische Bürger wendeten sich seit der Aufnahme Rußlands und der Ukraine in den Europarat vor allem deshalb an Straßburg, weil sie ohne richterliche Anordnung in Polizeigewahrsam oder Haft genommen worden seien. Häufig würden auch katastrophale Zustände in Gefängnissen und die Mißachtung der Rechte von Angeklagten moniert. Immer öfter klagten ferner Menschen, denen monatelang die Gehälter oder Pensionen nicht ausgezahlt wurden. Der Europarat rechnet damit, daß sich künftig auch verstärkt russische Soldaten wegen menschenunwürdiger Behandlung an den Gerichtshof wenden.
Von 1900 Klagen aus Polen, die 1998 beim Gerichtshof eingingen, wurden fast 500 zur Behandlung zugelassen.  Russen reichten 850 Beschwerden (110 Zulassungen) ein, Ukrainer klagten 600 Mal (210 Zulassungen), Rumänen 500 Mal (90 Zulassungen).
Der Gerichtshof fällte 1998 insgesamt 106 Urteile, wie Mahoney sagte. Mit 24 Urteilen lag die Türkei im Ländervergleich zwar an siebter Stelle, doch wurden die beklagten Menschenrechtsverletzungen als besonders schwer eingestuft. Übergriffe gegen Kurden und oppositionelle Politiker, unmenschliche Haftbedingungen und die Verweigerung von rechtsstaatlichem Schutz gehörten dazu.
Europäische Rechtsgeschichte, die für alle Staaten verbindlich sei, sprach der Gerichtshof aus Sicht seines Sprechers im Falle eines Parteiverbots in der Türkei: 1998 gab Straßburg einer türkischen kommunistischen Partei Recht, die gegen ihre Nichtzulassung geklagt hatte. In dem Urteil heißt es, eine Partei dürfe nur verboten werden, wenn der Organisation konkrete Verstöße gegen die demokratische Ordnung nachgewiesen werden - allgemeine Einschätzungen einer Partei als „antidemokratisch“ oder „terroristisch“ genügten nicht.
Die meisten Klagen richteten sich voriges Jahr gegen die Regierung Italiens: Bei mehr als 3000 Klagen ging es in 90 Prozent der Fälle um Gerichtsverfahren, deren Dauer von den Klägern als unzumutbar lang eingestuft wurde. Das Ministerkomitee als oberstes Entscheidungsgremium des Europarats forderte Rom in einer Resolution auf, durch eine Reform des Justizwesens und mehr Personal diesen Mißstand zu beheben. Auch 60 Prozent aller Beschwerden aus Frankreich betreffen unzumutbar lange Prozesse. Aus Deutschland wurden 299 Beschwerden vorgebracht.
1997 waren beim Menschenrechts-Gerichtshof, der für 750 Millionen Europäer die letzte juristische Instanz ist, 12 500 Klagen eingegangen. Zugelassen wurden davon 4800. 1998 stieg die Zahl der zugelassenen Beschwerden auf 5981. Sprecher Mahoney wies darauf hin, daß allein im November und im Dezember 5000 neue Klagen registriert wurden: Dies sei auf die Eröffnung des reformierten Gerichtshofs im Herbst zurückzuführen, der mit mehr Personal die Verfahrensdauer von derzeit bis zu sechs Jahren spürbar reduzieren soll.



 

Stuttgarter Zeitung 12.1.99

Beschwerden gegen Italien und die Türkei

STRASSBURG (dpa). Die Menschenrechtsbeschwerden im Kreis der 40 Länder des Europarats haben sich im vergangenen Jahr vor allem gegen Italien und die Türkei gerichtet. Das geht aus der Jahresstatistik hervor, welche die europäische Kommission für Menschenrechte am Montag in Straßburg vorgelegt hat. Danach wurden gegen Italien 798 und gegen die Türkei 656 Beschwerden eingereicht. Es folgten Frankreich (579) und Polen (459). Die meisten der Beschwerden gegen Italien betreffen wie auch in den Vorjahren die überlange Dauer von Gerichtsverfahren. Die langsame Arbeitsweise der italienischen Justiz ist auch der Grund, weshalb das Land in der Beschwerdestatistik die Spitzenposition einnimmt.
Zahlreiche Beschwerden gegen die Türkei stammten aus den Kurden-Gebieten im Südosten des Landes, sagte ein Sprecher des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Sie richteten sich gegen Folter, Vertreibung und Polizeigewalt.