Kurden versuchten Sturm auf Bremer Landesparlament
Bremen (AP) In Bremen haben am Nachmittag etwa 100 kurdische Demonstranten
vom Marktplatz aus versucht, das Landesparlament zu stürmen. Etwa
zehn bis
15 von ihnen gelang es, in den Vorflur des Gebäudes einzudringen.
Sofort drängten Polizeibeamte in Zivil die Männer wieder aus
dem Parlament. Auf dem
Marktplatz skandierten zugleich zahlreiche Demonstranten «Freiheit
für Öcalan» und andere Parolen. Nachdem die Anstürmenden
von der Polizei insgesamt
zurückgedrängt worden waren, durfte eine vierköpfige
kurdische Delegation zu Gesprächen mit einem Abgeordneten der Grünen
in das Gebäude. Danach löste sich
gegen 16.00 Uhr die Versammlung auf dem Marktplatz friedlich auf.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:31 Uhr
Ö c a l a n unter mysteriösen Umständen in die Türkei gebracht
Widersprüchliche Berichte über Vorgänge in Kenia - Kurden besetzen Konsulate - Schwere Zusammenstöße
Ankara (AP) PKK-Chef Abdullah Öcalan ist in Kenia festgenommen
und unter mysteriösen Umständen in die Türkei gebracht worden.
Der 49jährige Anführer der
kurdischen Unabhängigkeitsbewegung hatte sich nach wochenlanger
Odyssee fast zwei Wochen in der griechischen Botschaft in Kenia aufgehalten.
Kurden lösten
europaweite Protestaktionen und Botschaftsbesetzungen aus.
Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit erklärte
am Dienstag in Ankara: «Wir haben versprochen, daß der Staat
ihn fangen wird, wir haben unser Versprechen
gehalten.» Der Aufenthaltsort des PKK-Chefs, dem in der Türkei
wegen seines Kampfes für die Unabhängigkeit der Kurden die Todesstrafe
droht, wurde nicht
genannt.
Es lagen zunächst widersprüchliche Berichte darüber vor,
wie Öcalan in die Hände der Türkei geriet. Der griechische
Außenminister Theodoros Pangalos erklärte,
der PKK-Chef habe am Montag abend «entgegen unserem Rat»
das Gelände der Botschaft in Nairobi verlassen, um zum Flughafen zu
fahren und in die
Niederlande zu fliegen, wo seine Anwälte über politisches
Asyl verhandelt hätten. Von diesem Zeitpunkt an habe die griechische
Regierung Öcalan aus dem Auge
verloren. Griechenland verhandelte nach seinen Worten mit drei afrikanischen
Staaten über politisches Asyl für den Kurdenführer.
Die Türkei teilte lediglich mit, die Festnahme Öcalans sei
das Ergebnis einer zwölftägigen Geheimdienstoperation. Nach Darstellung
des Öcalan-Vertrauten Semsi
Kilic, der sich nach eigenen Angaben zusammen mit dem PKK-Chef in Nairobi
aufhielt, verließ dieser die griechische Botschaft keineswegs freiwillig.
Sie seien
gezwungen worden, das Gebäude zu verlassen. Öcalan sei von
kenianischen Beamten abgeführt worden, sagte Kilic. Öcalans Rechtsbeistand
in Deutschland, der
Bremer Anwalt Eberhard Schultz, erklärte, der PKK-Chef sei nach
gesicherten Informationen aus Nairobi unter der Vorspiegelung, er werde
in die Niederlande
ausgeflogen, in ein Flugzeug gelockt und in «einer Nacht- und
Nebelaktion» in die Türkei verschleppt worden.
Ecevit rief die PKK-Mitglieder nach der Festnahme Öcalans auf,
ihre Waffen niederzulegen. «Ihr steckt in der Sackgasse ... Während
ihr in den Bergen gekämpft
habt, lebte Öcalan im Luxus. Kehrt Öcalan den Rücken
zu und kommt wieder zu euren Vätern und Müttern zurück»,
sagte der türkische Regierungschef. «Jeder
muß einsehen, daß er es nicht mit unserem Staat aufnehmen
kann und daß separatistischer Terrorismus in der Türkei zu nichts
führt», sagte er mit bebender Stimme.
Die Türkei hat bislang jegliche Waffenstillstandsangebote der
PKK mit der Begründung zurückgewiesen, sie verhandele nicht mit
Terroristen.
Kenia verlangt Abzug des griechischen Botschafters
Die kenianische Regierung forderte unterdessen Griechenland auf, seinen
Botschafter abzuziehen. George Kostoulas habe seinen Diplomatenstatus verletzt,
da er
Öcalan am 2. Februar an Bord eines Privatflugzeugs aus Mailand
mit falschem Namen und Nationalität in das Land gebracht habe. Außenminister
Godana Bonaya
bestritt vor Journalisten jegliche kenianische Beteiligung an der Festnahme.
«Wir wollten einzig und allein, daß der Mann das Land verläßt»,
sagte er.
Europaweite Proteste der Kurden
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Nachricht von der Festnahme Öcalans
besetzten Kurden die diplomatischen Vertretungen Griechenlands und Kenias
in
mehreren europäischen Städten. Der griechische Botschafter
in Wien wurde als Geisel genommen. In Frankfurt, Düsseldorf, Hamburg
und anderen Städten kam es
zu schweren Ausschreitungen. In Bern und Zürich drohten die Besetzer
der griechischen Vertretungen mit Selbstverbrennungen; in Genf stürmten
Kurden den
UN-Palast. Die Schweizer Polizei griff bis zum Abend nicht ein.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:28 Uhr
USA begrüßen Verhaftung Öcalans
Washington (AP) Die USA haben die Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan
begrüßt. «Wir sind sehr zufrieden mit der Festnahme dieses
Terroristenführers»,
sagte am Dienstag der Sprecher des Weißen Hauses, Joe Lockhart.
Es gebe allerdings «keine direkte Mitwirkung» der USA an der
Überbringung Öcalans in die
Türkei. Der Regierungssprecher verurteilte die gewaltsamen Proteste
militanter Kurden in Europa und forderte die Freilassung aller Geiseln.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:26 Uhr
Aufgebrachte Kurden harren in Botschaften aus
Diplomatische Vertretungen in zehn Staaten gestürmt
Bern (AP) In zehn europäischen Staaten haben aufgebrachte Kurden
am Dienstag die diplomatischen Vertretungen Griechenlands oder Kenias gestürmt
und gegen
die Verhaftung von PKK-Chef Öcalan protestiert. Die Serie der
Besetzungen von Botschaften und Konsulaten begann am Morgen. Nachstehend
eine Übersicht:
In der Schweiz besetzten die Kurden die griechische Botschaft in Muri
bei Bern und das griechische Generalkonsulat in Zürich und stürmten
ins Genfer
UN-Gebäude. In Bern und Zürich drohten die Besetzer, die
Gebäude und sich selber in Brand zu setzen, falls die Polizei eingreifen
sollte. Die Botschaftsbesetzer
forderten einen sicheren Aufenthaltsort für Öcalan ausserhalb
der Türkei und die Einberufung einer internationalen Kurdenkonferenz
in Europa. In Zürich hielten die
Besetzer zwei Schweizer in ihrer Gewalt.
In Deutschland wurden die Botschaften Griechenlands und Kenias in Bonn
sowie die griechischen Konsulate in Leipzig, Düsseldorf, Frankfurt
am Main und Berlin
besetzt.
In Wien drangen kurdische Demonstranten vor Morgengrauen in die griechische
Botschaft ein und nahmen Botschafter Ioannis Yennimatas, seine Frau und
drei
Botschaftsmitarbeiter als Geiseln. Der Botschafter durfte mit dem griechischen
Staatspräsidenten Kostis Stephanopoulos telefonieren, der sich zu
einem offiziellen
Besuch in Wien aufhielt. Auch die kenianische Botschaft in Österreich
wurde gestürmt. Die Besetzer drohten damit, sich in Brand zu setzen.
In der Residenz des griechischen Botschafters in Den Haag brachten Kurden
drei Menschen in ihre Gewalt, unter ihnen die Frau des Botschafters und
ihren
achtjährigen Sohn. «Wir betrachten sie als Geiseln»,
sagte Polizeisprecherin Lineke Bennema. Die Polizei stehe mit den Besetzern
in Kontakt. In der Nähe des
niederländischen Parlamentsgebäudes kam es zu Zusammenstößen
zwischen der Polizei und kurdischen Demonstranten.
Die französische Polizei räumte die kenianische Botschaft
in Paris und nahm die etwa 30 Besetzer fest. Eine ähnliche Aktion
im griechischen Generalkonsulat in Paris
wurde bereits nach wenigen Stunden beendet. Protestaktionen in den
Vertretungen Griechenlands in Straßburg und Marseille dauerten dagegen
am Nachmittag an.
In Marseille wurden bei einem Handgemenge fünf Menschen leicht
verletzt.
In Brüssel drangen rund 20 Kurden in die griechische Botschaft ein und übergossen sich mit Benzin. Am Nachmittag zogen sie aber wieder friedlich ab.
Vor der griechischen Botschaft in Kopenhagen setzte sich eine 25jährige
Kurdin in Brand und zog sich lebensbedrohliche Verletzungen zu. Etwa 50
Demonstranten
drangen auf das Botschaftsgelände vor, blieben aber vor dem Gebäude.
Einer von ihnen erklärte, sie seien über eine Telefonkette der
PKK zusammengerufen
worden.
In Stockholm hielten etwa 30 Kurden die griechische Botschaft acht Stunden
lang besetzt, bis sie das Gebäude freiweillig verließen. In
der Umgebung kam es zu
einem Handgemenge.
Auch in Moskau drangen mindestens 40 Kurden auf das Gelände der
griechischen Botschaft vor. Nach stundenlangen Diskussion mit dem Botschafter
zogen sie sich
wieder zurück. Die Polizei drängte Demonstranten vor der
Botschaft zurück und nam 49 Personen fest.
In der armenischen Hauptstadt Eriwan stürmten etwa 40 Kurden die
in einem Hotel untergebrachte Vertretung Griechenlands. Drei von ihnen
überschütteten sich mit
Benzin. Die Polizei räumte das Gebäude.
In einen Hungerstreik traten 25 Kurden in der bulgarischen Hauptstadt
Sofia. Sie erklärten, daß sie erst nach der Freilassung Öcalans
wieder Nahrung zu sich
nehmen wollten.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:24 Uhr
Schily fordert kurdische Demonstranten zu Besonnenheit auf
Straffälligen PKK-Aktionisten mit Abschiebung gedroht - Fairen Prozeß angemahnt - Deutsche Stellen nicht informiert
Bonn (AP) Bundesinnenminister Otto Schily hat die kurdischen Demonstranten
in Deutschland zu Besonnenheit aufgerufen und sie aufgefordert, ihre Aktionen
anläßlich der Festnahme des Kurdenführers Abdullah
Öcalan zu beenden. Schily erklärte am Dienstag vor der Presse
in Bonn, die Behörden würden andernfalls mit
aller Härte gegen die Aktionisten vorgehen und auch vor Abschiebungen
nicht haltmachen. Zugleich appellierte der Minister an die Türkei,
den anstehenden Prozeß
gegen Öcalan fair zu führen.
Schily betonte, die offenbar von der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK)
zentral gesteuerten Protestaktionen in Deutschland und Europa könnten
von der
Bundesrepublik «keinesfalls geduldet werden». Straftaten
würden «mit aller gebotenen Härte» verfolgt. Die
Abschiebungsdrohung gelte für alle Kurden, die sich an
Straftaten beteiligten, und für die die rechtliche Möglichkeit
der Abschiebung bestehe. «Gewalt und Geiselnahme dienen der Sache
der Kurden am allerwenigsten»,
betonte der Innenminister.
Nach Angaben Schilys waren bis zum frühen Dienstagnachmittag in
mehreren deutschen Städten insgesamt rund 2.000 PKK-Aktivisten an
den Aktionen beteiligt.
Im griechischen Generalkonsulat in Leipzig seien drei Angestellte eines
Reisebüros, in der kenianischen Botschaft in Bonn zwei Botschaftsangehörige
und in der
griechischen Botschaft ein Diplomat festgehalten worden. Die Zahl der
Protestteilnehmer betrug nach den Worten den Ministers in Düsseldorf
geschätzte 350, in
Bonn 300, in Frankfurt am Main 400 und in Berlin 200. Bis zu 100 Demonstranten
wurden aus Stuttgart, Hamburg, Hannover und München gemeldet.
Nachdrücklich rief Schily die türkische Regierung dazu auf,
Öcalan einen fairen Prozeß zu garantieren. Zugleich forderte
er von Ankara, internationale Beobachter
des Verfahrens zuzulassen. Schließlich verlangte der Minister
von der Türkei, ein mögliches Todesurteil keinesfalls zu vollstrecken,
falls es zu einem Schuldspruch
komme.
Krisenstäbe tagen
Schily und der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Erdmann,
versicherten auf Fragen, daß die Bundesregierung erst am frühen
Dienstag morgen von den
Nachrichtenagenturen über die Vorgänge in Kenia erfahren
habe. Geheimdienstberichte über die Entwicklung um Öcalan hätten
nicht vorgelegen. Seit Dienstag
vormittag, 08.00 Uhr, arbeiteten im Bundesinnenministerium, im Auswärtigen
Amt und im Bundeskriminalamt Krisenstäbe; die notwendigen
Sicherheitsvorkehrungen, darunter auch die Überwachung der Flughäfen
seien eingeleitet. Einzelheiten wollte Schily aus polizeitaktischen Gründen
nicht nennen.
Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung wurde Öcalan am Montag
abend in Nairobi gegen 18.00 Uhr festgenommen, nachdem er sich in der dortigen
Botschaft Griechenlands aufgehalten hatte. Die Bundesregierung ist
nach Angaben Schilys nicht darüber informiert, wie sich die Festnahme
abgespielte und durch
wen sie erfolgte. Deutsche Stellen seien seines Wissens nicht beteiligt
gewesen, sagte der Minister auf die Frage, ob Öcalan sich in letzter
Minute an die deutsche
Botschaft gewandt und um Aufnahme gebeten habe.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:17 Uhr
Für Sonderstab europaweit generalstabsmässig geplante Aktion
Mit PKK als massgeblicher Kraft - Schweiz verlangt fairen Prozess gegen Öcalan
Bern (AP) Bei der kurdischen Besetzungsaktion handelt es sich nach Einschätzung
von Sonderstabschef Urs von Daeniken um eine europaweit generalstabsmässig
geplante Aktion. Politisch steht für die Schweiz im Vordergrund,
dass Kurdenführer Öcalan in der Türkei einen fairen Prozess
erhält und ein allfälliges Todesurteil
nicht vollzogen wird.
Der Chef des Sonderstabes Geiselnahme und Erpressung, von Daeniken,
und Botschafter Franz von Däniken, Chef der politischen Abteilung
I im EDA, nahmen am
Dienstag nachmittag an einer Presskonferenz im Bundeshaus eine polizeiliche
und politische Beurteilung der Aktion vor. Nach von Daeniken hatte sich
die Lage am
Nachmittag beruhigt, nachdem sie sich vorübergehend verschärft
hatte, als bekannt wurde, dass Kurdenführer Öcalan in der Türkei
sei. Ziel der Behörden sei es, die
Besetzungen in Zürich, Bern und Genf möglichst friedlich
zu beenden und Gewalt sowie Selbstverbrennungen zu vermeiden. Den Forderungen
der Besetzer sei
nachgekommen worden, indem Informationen über den Verbleib und
Gesundheitszustand Öcalans beschafft und weitergegeben worden seien.
Der Chef des Sonderstabs sprach von einer europaweit generalstabsmässig
geplanten Aktion. Die PKK sei massgeblich daran beteiligt. Sie habe bereits
eine
Pressemitteilung veröffentlicht und die Besetzer aufgefordert,
auf Befehle zu warten. Im Sender Med-TV sei die Rede von der Generalmobilmachung
in Europa. Es
gebe Aufforderungen, den Feind statt sich selber zu verbrennen. «Gewalt
war von Anbeginn in die Aktion eingeplant oder wurde in Kauf genommen»,
sagte von
Daeniken.
In politischer Hinsicht sind für die Behörden laut Botschafter
von Däniken drei Überlegungen wichtig. Wenn die Türkei Öcalan
den Prozess mache, so sei es wichtig,
dass das Verfahren in absoluter Übereinstimmung mit internationalen
Normen erfolge. Ebenfalls sei wichtig, dass internationale Beobachter zugelassen
würden.
«Sollte es zu einem Todesurteil kommen, sollte es nicht vollzogen
werden», sagte er.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:14 Uhr
Lebhafte Reaktionen auf Festnahme Öcalans und Kurdenproteste
Ausweisung von Gewalttätern - SPD dringt auf rechtsstaatlichen Prozeß
Frankfurt/Main (AP) Die Festnahme des Kurdenführers Abdullah Öcalan,
das ihm in der Türkei drohende Todesurteil und die gewalttätigen
Proteste von Kurden in
Deutschland haben am Dienstag ein lebhaftes politisches Echo ausgelöst.
Politiker der Grünen riefen die kurdische Bevölkerung in Deutschland
zu Ruhe und
Besonnenheit auf und distanzierten sich von Gewalt. Der SPD-Innenexperte
Willfried Penner äußerte die Hoffnung auf einen fairen Prozeß
für Öcalan. Mehrere
CDU-Politiker drangen vor allem auf ein hartes Durchgreifen gegen die
Protestaktionen der Kurden und stellten deren Gastrecht in Frage.
Verfassungsschutzpräsident Peter Frisch rechnet mit weiteren Gewaltaktionen.
Im Deutschlandfunk sagte der Präsident des Bundesamts für
Verfassungsschutz, er rechne für die Dauer des Gerichtsverfahrens
gegen Öcalan noch mit «erheblichen
Ausschreitungen» von PKK-Anhängern in Deutschland. Diese
würden sich vermutlich vor allem gegen offizielle türkische Vertretungen
aber auch Banken und
Reisebüros richten, warnte Frisch. Die schnellen, koordinierten
Aktionen führte Frisch darauf zurück, daß die PKK «nach
zentralistischen Grundsätzen straff
organisiert» sei.
Bonner Grünen-Politiker wie Fraktionschef Rezzo Schlauch und die
Abgeordneten Cem Özdemir, Claudia Roth und Angelika Beer riefen die
Kurden in
Deutschland zur Mäßigung und Gewaltfreiheit auf. Schlauch
und Özdemir kündigten auch entsprechende Gespräche mit Vertretern
der kurdischen Gemeinde an.
Angesichts eines grausamen Krieges mit über 30.000 Toten und Millionen
Vertriebenen seien Emotionen zwar verständlich, gewalttätige
Aktionen aber nicht
hinnehmbar. Jetzt müsse eine politische Lösung in den kurdischen
Gebieten gefunden werden, die Todesstrafe sei im Prozeß gegen Öcalan
auszuschließen.
CSU spricht von Terror
Der stellvertretende Unionsfraktionschef Jürgen Rüttgers verlangte
in Bonn ein entschlossenes Vorgehen gegen die Botschaftsbesetzer bis hin
zur Ausweisung und
Abschiebung. Wer hierzulande Straftaten begehe, verwirke sein Gastrecht.
CSU-Landesgruppenchef Michael Glos sagte, der Rechtsstaat dürfe nicht
ein weiteres
Mal vor dem Terror zurückweichen, nachdem Bonn bereits «dem
Druck der Straße nachgegeben» und auf eine Auslieferung Öcalans
verzichtet habe. Der
baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble (CDU)
kündigte eine Unterrichtung der Ausländerbehörden über
Straftaten von Kurden an und forderte
die rot-grüne Bundesregierung auf, «von ihren Plänen
zur Aufweichung des Ausländerrechts abzulassen».
Der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Penner, forderte die
europäischen Staaten im Saarländischen Rundfunk auf, bei der
Türkei auf einen fairen
Prozeß gegen Öcalan hinzuwirken. Vor allem dürfe ein
mögliches Todesurteil nicht vollstreckt werden, mahnte der SPD-Politiker.
Außerdem werde auch mit einem
Urteil gegen den PKK-Chef das politische Problem der Kurden keinesfalls
gelöst. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Uta Zapf forderte die Regierung
in Ankara auf,
dafür zu sorgen, daß der Prozeß gegen Öcalan
mit großer rechtsstaatlicher Sorgfalt und unter internationaler Beobachtung
der EU ablaufe. Die kurdischen
Organisationen seien aufgefordert, ihre Anhänger von gewaltsamen
Aktionen abzuhalten.
PDS-Fraktionschef Gregor Gysi forderte seinerseits Druck auf die Türkei.
Er solidarisierte sich mit politischen Protestaktionen, distanzierte sich
aber von
Besetzungen und rief die Kurden zu Gewaltfreiheit auf.
Dienstag 16. Februar 1999, 16:08 Uhr
«Wir sind mit unserem Blut bei Öcalan»
Polizei auf Stürmung vorbereitet Von AP-Korrespondent Stefanie Kreiß
Frankfurt/Main (AP) Kurz nach 10.00 Uhr am Dienstag morgen verbreitet
sich die Nachricht wie ein Lauffeuer unter den PKK-Sympathisanten: «Öcalan
ist in der
Türkei.» In Sekundenschnelle eskaliert in Lage in mehreren
deutschen Städten. In Düsseldorf versuchen Kurden, einen Landsmann
aus dem Fenster zu werfen. In
Frankfurt am Main fliegen Steine. Zuvor hatten die Anhänger des
PKK-Chefs fast generalstabsmäßig griechische und kenianische
Vertretungen in zahlreichen
Städten besetzt. In Leipzig werden dabei drei Geiseln genommen.
Vor den Gebäuden demonstrieren Hunderte Menschen.
Gespannte Ruhe herrscht am Nachmittag vor dem griechischen Konsulat
in Leipzig. Etwa 100 Polizisten und Spezialeinheiten warten mit Spürhunden
auf einen
möglichen Einsatz. Die 50 bis 70 Kurden, die am Morgen einen Steuerberater
und seine zwei weiblichen Angestellten als Geiseln genommen hatten, schwenken
PKK-Fahnen. In Sprechchören rufen sie auf türkisch: «Zahn
um Zahn!» und «Blut für Blut!».
Mit jeder Stunde, die vergeht, wird die Lage vor dem besetzten Gebäude
gespannter. «Es ist schwer, Kontakt zu kriegen», berichtet
Polizeisprecher Günter Pusch.
Die mutmaßlichen Geiselnehmer fordern die Freilassung Öcalans.
«Wir haben unsere Leute in allen Zimmern verteilt und Flaschen mit
Benzin», hatte einer der
Besetzer der «Dresdner Morgenpost» am Telefon gesagt. Die
Polizei setzt weiter auf eine Verhandlungslösung. Trotzdem steht ein
Spezial-Einsatzkommando für
eine eventuelle Befreiung der Geiseln bereit.
In Düsseldorf weht eine grün-rot-gelbe kurdische Fahne über
den drei Stockwerken des griechischen Generalkonsulats. Aus den zerschlagenen
Fenster des
Gebäudes hängen Portraits Öcalans und PKK-Fahnen. Rund
200 Kurden haben das Gebäude besetzt. Weitere 300 demonstrieren vor
dem Eingang. Die Polizei
sperrt in einem Großeinsatz die Umgebung völlig ab. Der
Verkehr in der Landeshauptstadt bricht zeitweise völlig zusammen.
Als die Besetzer von der Überstellung Öcalans an die Türkei
erfahren, beginnen sie weitere Scheiben des Gebäudes zu zerschlagen.
Im dritten Stock des Hauses
versuchen mehrere Kurden, einen Landsmann aus dem Fenster zu werfen.
Der Mann in einer weißen Hose wehrt sich verzweifelt. Doch dann gelingt
es anderen
Landsleuten, die Situation zu beruhigen. Die aufgeheizte Stimmung weicht
spürbarer Niedergeschlagenheit.
Bis zum Nachmittag bleibt die Situation stabil, aber angespannt. Die
Polizei hat ihre Einsatzkräfte ein Stück zurückgezogen.
Doch kann die Lage jederzeit wieder
eskalieren. Feuerwehrsprecher Jürgen Leineweber berichtet, daß
Möbel sind in den Keller getragen worden seien. Außerdem seien
zwei Benzinkanister gesehen
worden. «Es kann sehr schnell gefährlich werden.»
«Wir haben diese Gewalt nicht gewollt»
Bei den Ausschreitungen in Frankfurt am Main werfen Demonstranten vor
dem griechischen Konsulat Flaschen und Steine. Der Polizei gelingt es,
die aufgebrachte
Menge mit Schlagstockeinsatz und Wasserwerfern abzudrängen. Eine
Viertelstunde später ist die Straße geräumt. Doch es sieht
aus wie nach einer Schlacht - Autos
sind umgekippt, auf dem Asphalt liegen Steine, Schirme und Schuhe.
Die rund 400 Demonstranten hatten sich seit den frühen Morgenstunden
vor dem Konsulat versammelt, um ihre Solidarität mit der Besetzung
des Gebäudes zu
bekunden. «Wir haben diese Gewalt nicht gewollt», sagt
Mehmet Atak, der PKK-Verbindungsmann zur Polizei. «Aber bei den Leuten
sind die Emotionen einfach
hochgekommen.» Im Garten vor der Botschaft liegen die zerbrochenen
Teile von Computern herum, die die Besetzer während der Ausschreitungen
vor dem Haus
aus dem Fenster geworfen hatten.
Für den späteren Nachmittag wird der Grünen-Politiker
Daniel Cohn-Bendit als Vermittler vor dem Frankfurter Konsulat erwartet.
Polizeipsychologe Klaus
Thiessen ist guter Hoffnung, die Besetzung friedlich beenden zu können.
«Wir führen deeskalierende Verhandlungen, so weit ist alles
stabil», sagt er. Eine junge
Kurdin, die in der Nähe steht und die Worte hört, fragt mit
Verzweiflung in der Stimme: «Warum haben die Europäer das nicht
verhindert?» Hätte Öcalan in einem
EU-Land Asyl bekommen, wäre die jetzige Welle von Gewalt nicht
ausgebrochen, meint die dunkelhaarige Frau. Wenn der PKK-Führer vor
Gericht gestellt werde,
sei möglicherweise mit weiteren Ausschreitungen zu rechnen. Viele
Kurden würden alles für ihren «Apo» geben. «Wir
sind mit unserem Blut, mit unserer Seele bei
Öcalan.»
Dienstag 16. Februar 1999, 15:24 Uhr
Ausschreitungen vor griechischen Vertretungen in Deutschland
Proteste nach Überstellung Öcalans an die Türkei - Konsulate und Botschaften besetzt
Frankfurt/Main (AP) Mit scharfen und zum Teil gewalttätigen Protesten
haben Kurden in ganz Deutschland auf die Nachricht der Überstellung
von PKK-Chef
Abdullah Öcalan an die Türkei reagiert. In Bonn wurden am
Dienstag morgen die Botschaften Griechenlands und Kenias besetzt, in zahlreichen
Städten auch die
griechischen Generalkonsulate, die gegen Mittag zum Teil wieder geräumt
wurden. Im Leipziger Konsulat wurden drei Geiseln genommen, vielerorts
kam es zu
Ausschreitungen. Kurdische Demonstranten drohten mit Selbstverbrennungen.
Der deutsche Anwalt Öcalans, Eberhard Schultz, sagte Radio Bremen,
Öcalan sei aus Kenia in einer Nacht- und Nebelaktion in die Türkei
verschleppt worden,
nachdem er sich zwei Wochen lang in der griechischen Botschaft in Nairobi
aufgehalten habe. Er sei unter dem Vorwand, er werde in die Niederlande
ausgeflogen,
in ein Flugzeug gelockt worden, das ihn dann nach Ankara gebracht habe.
In PKK-Meldungen wurde Griechenland beschuldigt, die Festnahme Öcalans
zugelassen
zu haben.
Etwa 50 bis 70 Kurden besetzten am Morgen das griechische Konsulat in
Leipzig. Laut Polizei wurden dabei ein Steuerberater und seine zwei weiblichen
Angestellten als Geiseln genommen. Der Steuerberater Helge Semsch sagte
später der «Dresdner Morgenpost» am Telefon, daß
es ihm und den beiden Frauen gut
gehe. Sie würden nicht bedroht, dürften jedoch das Gebäude
nicht verlassen.
In Bonn stürmten etwa 30 Kurden die griechische Botschaft. Später
wurde auch die Botschaft Kenias besetzt. Ferner drangen kurdische Demonstranten
in die
griechischen Generalkonsulate in Stuttgart, Köln, Hannover, Berlin,
Düsseldorf und Frankfurt am Main ein, in denen sich zu diesem Zeitpunkt
jedoch niemand
aufhielt. Das Stuttgarter Konsulat wurde gegen Mittag von der Polizei
gewaltsam geräumt. Dabei wurden 28 Personen in Gewahrsam genommen,
verletzt wurde
niemand. Auch die Kölner Polizei räumte das Konsulatsgebäude,
wobei 32 Menschen festgenommen wurden. Bei den Auseinandersetzungen gab
es mehrere
Verletzte. In Hannover zogen die Besetzer dagegen friedlich aus dem
Konsulat ab.
In Frankfurt am Main besetzten etwa 50 PKK-Sympathisanten das griechische
Konsulat, rund 400 demonstrierten auf der Straße. Beim Bekanntwerden
der
Ankunft Öcalans in der Türkei flogen Steine. Die Polizei
setzte Gummiknüppel und Wasserwerfer ein und konnte die Menge schließlich
zerstreuen. Mindestens eine
Polizistin wurde verletzt, es gab mehrere Festnahmen. Die Besetzung
des Konsulats hielt am Nachmittag an. Später stürmten etwa 100
Kurden die Griechische
Zentrale für Fremdenverkehr in der Frankfurter Innenstadt und
brachten möglicherweise auch Menschen in ihre Gewalt.
Spur der Verwüstung in Hamburg
In Düsseldorf drangen rund 200 Kurden gewaltsam in das griechische
Konsulat ein. In einem der oberen Stockwerke wurde ein Mann fast aus dem
Fenster
geworfen, auch wurden Fensterscheiben zertrümmert und mit den
Scherben auf die Polizei gezielt. Dabei wurden mindestens ein Polizist
leicht verletzt und etwa 30
Demonstranten in Gewahrsam genommen.
In Hamburg versuchten am Morgen etwa 50 Kurden ins griechische Konsulat
einzudringen, was die Polizei jedoch verhinderte. Später zogen rund
100
Demonstranten randalierend durch die Stadt und hinterließen eine
Spur der Verwüstung. In Berlin besetzten rund 150 Kurden, darunter
auch Kinder, das griechische
Generalkonsulat und drohten mit Selbstverbrennung. Eine Frau zündete
sich nach Angaben eines Kurdensprechers an, doch hätten die übrigen
Besetzer die Flammen
gelöscht. Die Polizei konnte diesen Vorfall nicht bestätigen.
Dienstag 16. Februar 1999, 14:48 Uhr
Botschafts-Besetzer fordern politische Lösung der Kurdenfrage
Bern (AP) Die kurdischen Besetzer der griechischen Botschaft in Bern
haben am Dienstag nachmittag eine politische Lösung der Kurdenfrage
und Garantien für ein
Leben von PKK-Chef Öcalan ausserhalb der Türkei verlangt.
In einem Gespräch mit Vertretern der Bundesbehörden an einem
Fenster des Botschaftsgebäudes
sagten die Besetzer, sie würden erst nach Erfüllung dieser
Forderungen abziehen. Die Besetzung könne eine Woche, einen Monat
oder auch ein Jahr dauern, sagte
einer der vermummten Besetzer. Die Kurden fühlten sich von Europa
verraten. Europa müsse nun eine Kurdenkonferenz einberufen. Die Forderungen
wurden vom
Sprecher des Sonderstabs des Bundesrats, Dominique Reymond, und vom
diplomatischen Mitarbeiter im Eidgenössischen Departement für
auswärtige
Angelegenheiten (EDA), Daniel Hunn, entgegengenommen. Reymond forderte
die Besetzer auf, ihre Forderungen schriftlich zu formulieren. Der Sprecher
sagte, man
werde weiter verhandeln und mit den Protestierenden im Gespräch
bleiben. Vor der besetzten Botschaft hielten sich am Nachmittag nach wie
vor mehrere Dutzend
Kurdinnen und Kurden auf und skandierten den Namen ihres in die Türkei
ausgelieferten Führers.
Dienstag 16. Februar 1999, 14:18 Uhr
Kurden nehmen Geiseln in kenianischer Botschaft in Paris
Tagesmeldung (neue Einzelheiten, gestrafft)
Auch Protestaktionen in Straßburg und Marseille
Paris (AP) Aus Protest gegen die Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan
haben etwa 30 Kurden die kenianische Botschaft in Paris besetzt und vermutlich
sechs Menschen als Geiseln genommen. Der Botschafter war aber nicht
darunter, wie die französische Polizei am Dienstag mitteilte. Die
Besetzung des griechischen
Generalkonsulats in der französischen Hauptstadt wurde am Vormittag
friedlich beendet. Protestaktionen in den Vertretungen Griechenlands in
Straßburg und
Marseille hielten dagegen an.
Die Besetzer verschütteten in der Botschaft Kenias Benzin und drohten
damit, das Gebäude in Brand zu setzen. Der Pariser Präfekt Philippe
Massoni befand sich
vor Ort - ebenso wie ein großes Polizeiaufgebot und die Feuerwehr.
In Straßburg und Marseille drangen Kurden in den frühen Morgenstunden
in das griechische Konsulat ein. Auch hier drohten sie damit, ein Feuer
zu legen. In beiden
Städten demonstrierten jeweils etwa 100 Kurden vor dem Gebäude.
Bei einem Handgemenge zwischen Polizei und Demonstranten in Marseille wurden
fünf
Menschen leicht verletzt.
Dienstag 16. Februar 1999, 13:32 Uhr
Leipzig: Kurden nehmen offenbar G e i s e l n / zwei
Einer der Besetzer sagte der «Dresdner Morgenpost»: «Wir
fordern die sofortige Freilassung von Abdullah Öcalan. Vorher werden
wir das Konsulat nicht
verlassen.» Er warnte die Polizei, das Gebäude zu stürmen.
«Wir haben unsere Leute in allen Zimmern verteilt und Flaschen mit
Benzin.» Einer der mutmaßlichen
Geiseln, der Steuerberater Helge Semsch, sagte der Zeitung am Telefon,
daß es ihm und den beiden Frauen gut gehe. Sie würden nicht
bedroht, dürften jedoch das
Haus nicht verlassen. «Ich hoffe nun auf die Vernunft von beiden
Seiten, damit die Sache hier so schnell wie möglich friedlich beendet
wird», fügte der von den
Besetzern festgehaltene Mann hinzu.
Dienstag 16. Februar 1999, 21:30 Uhr
Ankara: Öcalan soll auf Insel gefangengehalten werden / zwei
Gewaltsame Proteste von PKK-Anhängern in Istanbul
In Istanbul kam es am Abend zu gewaltsamen Protesten von PKK-Anhängern
gegen die Verhaftung Öcalans. Etwa 1.000 Demonstranten versammelten
sich im
vorwiegend von Kurden bewohnten Stadtteil Gazi. Nach Angaben der Polizei
steckten sich etwa zehn Autos in Brand. Die Polizei errichtete Straßensperren,
um eine
Ausdehnung der Protestaktionen zu verhindern.
Dienstag 16. Februar 1999, 21:58 Uhr
Besetzer v e r l a s s e n griechisches Konsulat in Frankfurt
Frankfurt/Main (AP) Die Besetzer des griechischen Konsulats in Frankfurt
am Main haben das Gebäude am Dienstag abend verlassen. Den Abzug der
49 Kurden hatte
der Europaabgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, vermittelt.
Er hatte nach eigenen Angaben ausgehandelt, daß die Polizei auf Festnahmen
verzichtet und zuvor
bereits festgenommene PKK-Sympathisanten freiläßt. Er sagte
den Kurden auch zu, im Europaparlament eine Initiative für die Einberufung
einer internationalen
Kurdenkonferenz sowie im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
eine Initiative für eine Lebensgarantie für den festgenommenen
Kurdenchef Öcalan
anzuschieben. Ferner wolle er sich dafür einsetzen, daß
das Europaparlament zu dem zu erwartenden Prozeß in die Türkei
entsendet.
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Dienstag 16. Februar 1999, 21:30 Uhr
Kritische Situation nach Kurdenbesetzungen - Zweite
Friedliche Lösung hat für Behörden Priorität - Bundesrat fordert aber sofortigen Abbruch der Proteste
Bern/Zürich/Genf (AP) Verzweifelte Proteste von Kurden in Bern,
Zürich und Genf haben die Schweizer Behörden am Dienstag vor
eine heikle Situation gestellt. Im
Unterschied zu den Behörden anderer Länder verzichteten sie
bis am späten Abend auf eine Räumung. Der Bundesrat forderte
den sofortigen Abbruch der Proteste.
Die offensichtlich europaweit koordinierten Besetzungen, die nach Erkenntnis
des Bundespolizeichefs Urs von Daeniken unter bewusster Inkaufnahme von
Gewalt
ausgelöst worden waren, richteten sich in der Schweiz gegen die
griechische Botschaft im Berner Vorort Muri, gegen das Generalkonsulat
des gleichen Landes in
Zürich und gegen das europäische UN-Hauptquartier in Genf.
Zwischen 04.00 und 06.00 Uhr drangen Dutzende von militanten Kurdinnen
und Kurden in die drei
Gebäude ein und richteten dabei Sachschäden an. Am Abend
wurden auch die Büros der Genfer SP von rund 40 Kurden besetzt; mehrere
SP-Vertreter wurden von
den Besetzern angehalten. In Zürich nahmen die Besetzer den Hauseigentümer
und einen Zürcher Stadtpolizisten in ihre Gewalt - ein Vorgehen, das
nach Darstellung
der Stadtpolizei Zürich den Tatbestand der Geiselnahme erfüllt.
In Zürich und in Bern drohten die Besetzer, die Gebäude und sich
selber mit Benzin zu übergiessen und
in Brand zu setzen, falls die Polizei einschreiten sollte. Auf dem
Vorplatz der griechischen Botschaft in Muri versuchte sich ein Demonstrant
am Abend selbst zu
verbrennen. Die Aktion konnte aber rasch unterbunden werden; der Mann
wurde von der Sanität ins Spital gebracht.
Angesichts des Ernstes der Lage und nach Selbstverbrennungen von Kurden
in anderen Ländern trat am frühen Morgen der Sonderstab «Geiselnahme
und Erpressung»
(Soge) des Bundesrats in Aktion. Der von Justizminister Arnold Koller
geführte und vom Bundespolizeichef operativ geleitete Krisenstab übernahm
die Koordination des
Vorgehens der kantonalen Polizeikorps. Eine friedliche Lösung
habe von Anfang an Priorität gehabt, sagte von Daeniken am Nachmittag
vor den Medien im
Bundeshaus. Eine Einzelaktion in einem Kanton sei unerwünscht.
In Zürich wurden die drei Nachbarliegenschaften des Konsulats schon
am Mittag aus
Sicherheitsgründen evakuiert. Vertreter des Sonderstabs verhandelten
mit den Besetzern in Bern. Diese unterbreiteten einen Forderungskatalog.
Darin wird unter
anderem ein sicherer Aufenthaltsort für Öcalan ausserhalb
der Türkei sowie eine politische Lösung der Kurdenfrage an einer
internationalen Konferenz verlangt.
Der Sonderstab gebe einer friedlichen Räumung nach wie vor den
Vorzug, «aber wir können auch nicht ewig warten», sagte
von Daeniken. Und der Bundesrat
verlangte am Abend die sofortige Beendigung der Besetzungen durch Kurden
in der Schweiz und drohte mit einem Polizeieinsatz. Nach Auskunft der Bundeskanzlei
ist
diese politische Erklärung aber nicht als zeitliches Ultimatum
zu verstehen. Der Bundesrat gab zugleich der Erwartung Ausdruck, dass die
türkischen Behörden Öcalan
fair behandelten und ein rechtlich korrektes Verfahren gegen den PKK-Chef
durchführten. Botschafter Franz von Däniken, Chef der politischen
Abteilung I im EDA,
ergänzte, zum Prozess gegen Öcalan müssten internationale
Beobachter zugelassen werden. «Sollte es zu einem Todesurteil kommen,
sollte es nicht vollzogen werden»,
sagte er. Die Schweiz sei in den vergangenen Monaten dauernd in Kontakt
mit der Türkei gestanden. Sie sei der Türkei insofern entgegengekommen,
als sie eine
Einreisesperre gegen den Kurdenführer erlassen habe.
Dienstag 16. Februar 1999, 21:25 Uhr
Kurden-Besetzungen in Deutschland dauern an
Botschaften und Konsulate in Bonn, Frankfurt am Main und Düsseldorf betroffen - Auch noch Geiseln festgehalten
Frankfurt/Main (AP) Die Inhaftierung von PKK-Chef Abdullah Öcalan
in der Türkei hat in Deutschland gewalttätige Proteste tausender
Kurden ausgelöst. Sie
besetzten am Dienstag Botschaften und Konsulate, nahmen Angestellte
als Geiseln und zerstörten die Einrichtungen. Zwei Frauen versuchten
sich selbst zu verbrennen.
Am Abend hatten die Kurden noch zwei Angehörige der kenianischen
Botschaft und einen Diplomaten in der griechischen Vertretung in Bonn in
der Gewalt sowie vier
Mitarbeiter eines ebenfalls besetzten kenianischen Reisebüros
in Frankfurt am Main. Auch das griechische Konsulat in Düsseldorf
war weiterhin besetzt.
In Bonn lieferten sich Besetzer und Polizei parallel zu den Verhandlungen
über die Freilassung der Diplomaten offenbar einen Nervenkrieg. Immer
wieder marschierten
Polizisten und Bundesgrenzschützer mit Rammböcken vor der
kenianischen Botschaft auf, zogen sich aber auch immer wieder zurück.
Abseits der Botschaft
demonstrierten rund 150 Kurden und riefen «Mörder, Mörder».
In Frankfurt am Main verhandelte der Grünen-Europaabgeordnete Daniel
Cohn-Bendit über die Freilassung der vier festgehaltenen Reisebüro-Mitarbeiter.
Außerdem
hielten etwa 15 Sympathisanten das griechische Konsulat besetzt. Sie
erklärten, die Geiseln würden erst freigelassen, wenn ihnen selbst
freier Abzug gewährt werde.
Außerdem forderten sie eine stärkere Berücksichtigung
kurdischer belange auf europäischer Ebene.
Auch das Konsulat in Düsseldorf war weiter besetzt. Dort waren
rund 200 Kurden eingedrungen. In einem der oberen Stockwerke wurde ein
Mann fast aus dem
Fenster geworfen, Fensterscheiben wurden zertrümmert und mit den
Scherben auf die Polizei gezielt. Mindestens ein Polizist wurde leicht
verletzt. Die Beamten nahmen
etwa 30 Demonstranten in Gewahrsam.
In Berlin dagegen gaben die Besetzer des griechischen Konsulats am Abend
auf. Mehrere hundert Kurden verließen das Gebäude, das sie rund
16 Stunden lang besetzt
hielten. Einer, der im Gebäude geblieben war, wurde anschließend
festgenommen. Die Abziehenden vereinigten sich mit den rund 350 Demonstranten
vor Ort.
In Leipzig, Stuttgart und Köln dagegen hatte die Polizei besetzte
Gebäude zuvor gestürmt. In Leipzig hatten 50 bis 70 Kurden im
griechischen Generalkonsulat einen
Steuerberater sowie ein 15jähriges Mädchen und eine 22jährige
Frau in ihre Gewalt gebracht. Ein Sondereinsatzkommando befreite die Festgehaltenen
unverletzt. Das
Stuttgarter Konsulat wurde gegen Mittag gewaltsam geräumt; dabei
wurden 28 Personen in Gewahrsam genommen. Auch die Kölner Polizei
räumte das
Konsulatsgebäude, wobei 32 Menschen festgenommen wurden. Dort
gab es mehrere Verletzte.