Der Prozess gegen den Kurdenführer Öcalan hat in der Türkei nicht nur einen Graben zwischen Kurden und Türken aufgerissen, sondern auch die Juristen entzweit. Die kurdischen Verteidiger sprechen von Verstössen gegen den Rechtsstaat, während türkische Juristen über eine Rechtsreform debattieren. Der Europäische Gerichtshof bestreitet die Kompetenz der türkischen Staatssicherheitsgerichte, die im Fall Öcalan zuständig sind.
it. Istanbul, 11. März
Nach einem zweistündigen Gespräch mit dem Kurdenführer
Abdullah Öcalan hat sein Verteidiger Ahmet Zeki Okcuoglu am Donnerstag
abend Berichte dementiert, wonach der seit dem 16. Februar auf der im Marmarameer
gelegenen Insel Imrali inhaftierte Kurdenführer schwerwiegende Gesundheitsprobleme
haben soll. Dass Okcuoglu zwei Wochen lang auf eine Genehmigung warten
musste, bevor er seinen Mandanten besuchen durfte, hat den Gerüchten
wohl Vorschub geleistet.Am Mittwoch hatte Okcuoglu, von stundenlangem Warten
in der kleinen Hafenstadt Mudanya gegenüber der Gefängnisinsel
Imrali sichtlich aufgebracht, von der Staatsanwaltschaft eine schriftliche
Regelung seines Besuchsrechts gefordert.
Schwierige Zeiten für die Verteidigung
Okcuoglus Wutausbruch kontrastiert mit dem offiziellen Bericht
der Türkei über die Haftbedingungen Öcalans, den Ankara
zuhanden des Europäischen Gerichtshofes verfasst hatte. Darin steht
unter anderem, dass der Kurdenführer jederzeit Familienangehörige
und seine Anwälte sehen könne. In Wirklichkeit hat Okcuoglu,
der einem 15köpfigen Team von Anwälten vorsteht, Öcalan
bis am Mittwoch abend ein einziges Mal während 20 Minuten treffen
dürfen. Jenem Gespräch wohnten ein Staatsanwalt, der entgegen
türkischen Gesetzen den gesamten Dialog des Anwalts und des Kurdenführers
notierte, sowie zwei maskierte Männer der Sicherheitskräfte bei.
Am Donnerstag wurde Okcuoglu ein weiterer Besuch auf Imrali gestattet.
Öcalans Verteidiger haben generell mit Schwierigkeiten zu rechnen. Am Mittwoch wurde der Anwalt Medeni Ayhan festgenommen. Ayhan, der zu dem Verteidigerteam gehört, war zuvor zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Vorgeworfen wurde ihm die Verbreitung separatistischer Propaganda. Ein weiterer Anwalt, Osman Baydemir, wurde Ende Februar erst nach mehrstündiger Inhaftierung freigelassen. Ihm waren Kontakte zur kurdischen Arbeiterpartei PKK angelastet worden. Am Donnerstag beriet die Istanbuler Anwaltskammer darüber, ob Okcuoglu wegen separatistischer Propaganda von ihrer Mitgliederliste gestrichen werden soll. In der Türkei wurden während der letzten Jahre faktisch alle Kurden, die ihren ethnischen Ursprung öffentlich nicht leugnen wollten, separatistischer Propaganda beschuldigt. Die Mehrheit der 15 freiwilligen Verteidiger im Prozess gegen Öcalan bestehen aber auf ihrer kurdischen Abstammung. Wegen dieser Haltung waren einige von ihnen bereits Todesdrohungen ausgesetzt gewesen. Als beispielsweise Okcuoglu zum erstenmal seinen Mandanten besuchen wollte, wurde er von einer wütenden Menschengruppe beschimpft, bedroht und mit Steinen beworfen. Dabei wurden Slogans der ultranationalistischen Organisation der «Grauen Wölfe» skandiert.
Forderung des Europäischen Gerichtshofs
In der türkischen Bevölkerung herrsche eine Atmosphäre
der Lynchjustiz, die sich auch gegen Öcalans Verteidiger auswirke,
sagte das Vorstandsmitglied der Istanbuler Anwaltskammer Osman Ergin im
Gespräch. Dies sei einer der Rechtsverstösse im Fall Öcalan.
Ein weiterer Verstoss sei ferner die Tatsache, dass die Staatsanwälte
noch vor Beginn des Verfahrens den Angeklagten öffentlich als schuldig
bezeichnet hätten. Schliesslich widerspreche es allen Regeln von Rechtsstaatlichkeit,
dass die Verteidigung die Anklageschrift nicht kenne. Der Prozessbeginn
ist auf den 24. März anberaumt worden.
Der Kurdenführer muss sich gemäss Artikel 125 des türkischen
Strafgesetzbuches wegen «Verbrechen gegen den Staat» vor einem
Staatssicherheitsgericht verantworten. Die Staatssicherheitsgerichte wurden
von den Generälen nach ihrem letzten Staatsstreich Anfang der achtziger
Jahre gebildet und hatten zur Aufgabe, Vergehen gegen die bestehende Staatsordnung
zu behandeln. Weil die Staatssicherheitsgerichte von zwei zivilen und einem
Militärrichter gebildet werden, stehen sie im Ruf, die Militärjustiz
zu vertreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat letzten Sommer befunden, dass die türkischen Staatssicherheitsgerichte
mit Artikel sechs der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht
vereinbar sind
Laut den Strassburger Richtern garantiert Artikel sechs das Recht des
Angeklagten auf ein gerechtes Verfahren vor einem unabhängigen und
unparteiischen Gericht. Die Präsenz eines Militärrichters widerspreche
aber diesem Prinzip. Der Europäische Gerichtshof hat Ankara eine Frist
bis zum 8. November 1998 eingeräumt, um die notwendigen Reformen im
Rechtswesen einzuleiten.
Der Armeekreisen nahestehende ehemalige Botschafter Sükrü
Eledag
forderte das Parlament auf, dem Begehren Strassburgs mit einer sofortigen
Verfassungsänderung nachzukommen. Dafür plädierte erstaunlicherweise
auch die Armeespitze. Manche Politiker halten aber an einer harten Linie
fest. «Mal sehen, ob der Europarat es wagen würde, die mächtige
Türkei zu verstossen», schrieb der einflussreiche Kolumnist
Coskun Kirca in der Tageszeitung «Milliyet». Am Mittwoch versuchte
Präsident Demirel zu vermitteln. Er rief seine Mitbürger dazu
auf, die Verfassung zwar zu verändern, allerdings ohne Eile. Derart
tiefgreifende Reformen könnten, so sagte er, erst dann durchgeführt
werden, wenn die Zusammensetzung des Parlaments nach den Wahlen im nächsten
Monat feststehe.