EINE KOSOVO-LÖSUNG FÜR DIE KURDEN DER TÜRKEI
Appelle an Ankara sind nur fromme Wünsche
VERSCHIEDENE Interessen wirkten zusammen, als der Kurdenführer
Abdullah Öcalan nach seiner Flucht quer durch Europa in Nairobi landete,
wo er in die Hände der türkischen Verfolger fallen mußte.
Wie diese Interessen aussehen und was sie beeinflußt hat, ist im
Detail noch unklar. Klar ist jedoch die Verantwortung der EU-Länder,
die Öcalan weder aufgenommen noch vor Gericht gestellt haben. In Westeuropa
leben 850000 kurdische Flüchtlinge. Aber was tun diese Länder,
um dem Krieg gegen die Kurden Einhalt zu geBieten und dieser unterdrückten
Minderheit zu einem Minimum an Selbstbestimmung zu verhelfen? Diese Frage
stellt Kendal Nezan, ein unabhängiger kurdischer Intellektueller,
der sich noch im November 1998 mit Öcalan in Rom unterhalten hat.
Von KENDAL NEZAN
Nach viermonatiger Irrfahrt quer durch Europa wurde Abdullah Öcalan
am Ende der türkischen Regierung ausgeliefert. Am 15. Februar
wurde er in Kenia gefaßt und in die Türkei überführt,
wo er seitdem in der Strafanstalt Imrali inhaftiert ist. Auf dieser Gefängnisinsel,
die vorwiegend den zum Tode Verurteilten vorbehalten ist und wo 1960 der
ehemalige demokratische Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei
seiner Minister hingerichtet wurden, soll auch das Urteil über den
Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der seit 1984 einen bewaffneten
Kampf führte, gesprochen werden.
Die Kurden fühlen sich in ihrer Gesamtheit gedemütigt und
verhöhnt, und sie wiederholen bis zum Überdruß das Sprichwort,
mit dem sie ihre schlechten Zeiten erklären: „Die Kurden haben keine
Freunde.“ Für die meisten von ihnen ist der Führer der PKK, auf
den eine regelrechte Menschenjagd veranstaltet wurde, zum Opfer einer türkisch-amerikanisch-
israelischen Verschwörung geworden, und dies unter Beihilfe der griechischen
und der kenianischen Regierung. Aus dieser Überzeugung resultierte
ihre Wut und die Welle von bisweilen gewaltsamen Demonstrationen gegen
die diplomatischen Vertretungen dieser Länder in Europa, im Nahen
Osten und im Kaukasus. Diese Demonstrationen werden sich möglicherweise
fortsetzen und radikalisieren. Als „Vorbeugemaßnahme“ hat Ankara
innerhalb einer Woche fast 2000 kurdische und türkische Menschenrechtskämpfer
festnehmen lassen und den internationalen Medien den Zugang zu den kurdischen
Gebieten untersagt.
Dieselben europäischen Länder, die zahlreichen korrupten
und blutrünstigen Diktatoren der südlichen Hemisphäre Aufnahme
gewähren, haben vor dem Kurdenführer ihre Haustür verschlossen.
Dabei spielte sowohl der Druck aus Washington eine Rolle als auch die Angst
vor wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen der Türkei, insbesondere
auf dem Gebiet der Waffenverkäufe. Die kenianische Führung, die
einem Land am Rande des finanziellen Zusammenbruchs vorsteht und der die
USA nach dem mörderischen Attentat auf die amerikanische Botschaft
in Nairobi ihre laxe Haltung vorgeworfen haben, hat die ihr zugedachte
Aufgabe bereitwillig erfüllt, zumal man ihr wirtschaftliche und politische
Gegenleistungen versprochen hatte.
Die Rolle Athens in dieser Angelegenheit ist weitaus verschwommener.
Der angebliche „Verrat“ an Öcalan löste in der öffentlichen
Meinung Griechenlands, die in weiten Teilen prokurdisch ist, ein wahres
Erdbeben aus, und Ministerpräsident Kostas Simitis mußte drei
seiner Minister opfern, darunter den Außenminister Theodoros Pangalos.
Bisher konnten die Behörden keinerlei befriedigende Erklärung
dafür geben, aus welchen Beweggründen sie Öcalan am 2. Februar
nach Kenia geschickt hatten. In ein Land also, von dem man weiß,
daß es eine Spielwiese der israelischen Nachrichtendienste und für
US-amerikanischen Druck ausgesprochen anfällig ist. Auch über
die Bedingungen, unter denen die griechischen Diplomaten Öcalan den
kenianischen Behörden überlassen haben, liegen keine klaren Aussagen
vor. Türkische Zeitungen spekulieren, Athen könnte sich zur „Übergabe“
von Öcalan bereitgefunden haben, als Gegenleistung dafür, daß
Amerikaner und Türken der Aufstellung der von Zypern gekauften russischen
S-300-Raketen auf Kreta zustimmen.
Die USA, die seit dem aufsehenerregenden Fiasko ihrer geheimen Operationen
im Irak im Jahre 1996 danach trachten, eine neue Strategie zum Sturz des
irakischen Regimes zu entwickeln, brauchen mehr denn je die Kooperationsbereitschaft
des Nato-Mitglieds Türkei, und dies insbesondere für die Benützung
der Militärbasis von Incerlik. Um Ankara einen Gefallen zu tun, hat
Washington die PKK auf die Liste terroristischer Organisationen gesetzt,
obwohl die PKK bisher noch kein einziges Attentat gegen US- amerikanische
Ziele unternommen hat. Und nebenbei bemerkt:
Ist nicht der einst so verunglimpfte Exterrorist Jassir Arafat heute
ein guter Freund von Präsident Bill Clinton?
„Mein Volk wird mich rächen“
Für die USA stellt die PKK auch ein Haupthindernis für die
Umsetzung der Friedensvereinbarung dar, welche 1998 unter der Ägide
von Madeleine Albright zwischen den zwei wichtigsten kurdischen Parteien
des Irak getroffen wurde. Denn Syrien und der Iran benützen die PKK,
um sich der Pax americana zu widersetzen. Noch allgemeiner gesagt:
In den Augen der US-amerikanischen Regierung sind die Kurden „verloren
und nicht mehr zu retten“; man betrachtet sie als „Feinde, die vernichtet
werden müssen“. Und dies alles mit dem Ziel, die fortschreitende Demokratisierung
des türkischen Regimes und seine Integration in die europäische
Union zu fördern.
Israel behauptet, nicht direkt an der Operation gegen Öcalan beteiligt
gewesen zu sein. Und doch war es der israelische Geheimdienst Mossad, der
im Oktober 1998 die türkische Regierung zuerst von der Ankunft des
Kurdenführers in Moskau unterrichte. Bekannt ist auch, daß israelische
Berater die türkischen Spezialeinheiten betreuen, die gegen die PKK
kämpfen. Am 4. Februar 1999 schrieb der sehr einflußreiche
Kolumnist William Safire in der New York Times von einer Zusammenarbeit
der amerikanischen und israelischen Geheimdienste, um den „bösen Kurden
Öcalan“ festzunehmen.
Im Gegensatz zu ihren osmanischen Vorgängern, die sich aus Achtung
für den Gegner darauf beschränkten, die rebellischen Kurdenführer
zu deportieren, haben die türkischen Machthaber alle Anführer
der kurdischen Aufstände des 20. Jahrhunderts zum Tod verurteilt und
gehängt. Wenn sich die heutige Regierung an diese Tradition hält,
die von Kemal Atatürk höchstpersönlich eingeleitet wurde,
müßte Öcalan nach einem rein formalen Prozeß im April
1999 nach Artikel 125 des Strafgesetzes wegen Hochverrats zum Tod verurteilt
und hingerichtet werden. Es sei denn, der internationale Druck wäre
außergewöhnlich stark - oder der Kurdenführer würde
kapitulieren, womöglich unter der Einwirkung von Drogen, die seine
durch die Irrfahrten der letzten Monate ohnehin geschwächte Persönlichkeit
zerstören.
Mehrere westliche Länder haben an die Regierung in Ankara appelliert,
sich an die Regeln eines gerechten Prozesses zu halten. Doch sind
dies bloß fromme Wünsche, wenn man die Tatsache bedenkt, daß
die Justiz dieses Staates den Intellektuellen Ismail Besikci wegen seiner
Schriften über die Kurden zu zweihundert Jahren Gefängnis verurteilen
konnte. Auch die Appelle zugunsten eines gerechten Urteils für die
kurdischen Abgeordneten im Jahre 1994 konnten nicht verhindern, daß
diese wegen ihrer Gesinnung zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurden.
Im übrigen werden dieselben Staatsanwälte und Richter des Gerichtshofes
für Staatssicherheit, die für die Verurteilung dieser kurdischen
Abgeordneten verantwortlich waren, auch über Öcalan zu Gericht
sitzen. Und zwar nach Gesetzen und Verfahrensweisen, die mit den europäischen
Menschenrechtskonventionen unvereinbar sind, die von der Türkei selbst
unterschrieben wurden.
Diejenigen, die es vergessen haben sollten, wollen wir daran erinnern,
wie sich die Hinrichtung des legendären Anführers der kurdischen
Rebellion von 1937, Seyit Riza, abgespielt hat. Dieser war am 5. September
1937 in die Hände der türkischen Truppen gefallen. Um das Ereignis
zu feiern, beschloß Atatürk, sich am 30.
November in die Region zu begeben, offiziell um eine Brücke über
den Euphrat einzuweihen. Ihsan Sabri Caglyangil, der am Ende der
siebziger Jahre Präsident der Republik werden sollte, hatte damals
durch seine Nachrichtendienste erfahren, daß lokale Honoratioren
bei dieser Gelegenheit den „Vater der Nation“ mit der Bitte um das
Leben des Verurteilten „belästigen“ wollten. In seinen Memoiren
schreibt er: „Auf der Stelle wurde ich von der Regierung entsandt,
um zu erreichen, daß die Verurteilten, welche gehängt werden
sollten, noch vor dem Besuch Atatürks hingerichtet würden.“1
Nach seiner Ankunft am Freitag abend, 27. November, begibt sich Caglayangil
zum Staatsanwalt, der ihm erklärt, daß der Gerichtshof nicht
an einem Samstag, also einem Feiertag, zusammentreten könne. Auf den
Rat des stellvertretenden Staatsanwalts, eines ehemaligen Studienkollegen,
sucht er den Gouverneur auf, der den Ersten Staatsanwalt „beurlaubt“. Hierauf
wendet er sich an den Richter, der seinerseits bestätigt, daß
er - laut Gesetz - das Gericht nicht vor Montag, 30. November, einberufen
kann. Dennoch wird dieses noch in der Nacht zum Montag zusammengeholt,
und zwar in einem Saal, der von Sturmlampen erleuchtet ist. Entsprechend
den erhaltenen Anweisungen verurteilt das Gericht den Kurdenführer
und sechs seiner Anhänger zum Tode.
Das Urteil ist unwiderruflich, und General Abdullah Pascha, die oberste
militärische Autorität der Region, hat die Bestätigung dieses
Urteils im voraus auf einem nichtamtlichen Stück Papier unterzeichnet.
Die sieben Verurteilten werden also um drei Uhr morgens zu dem Gerüst
mit den Galgen geführt, das auf einem von den Scheinwerfern der Polizeifahrzeuge
erleuchteten Platz errichtet ist. Der alte Kurdenführer, ein fünfundsiebzigjähriger
Mann, steigt auf das Gerüst, stößt den Henker zurück,
legt sich selbst den Strick um den Hals und schreit: „Ihr seid noch nicht
fertig mit den Kurden. Mein Volk wird mich rächen!“ Am nächsten
Tag beginnt Atatürk sein Besuchsprogramm. Unter Wahrung der Form ist
Recht gesprochen worden, man hat die kurdische Rebellion „endgültig
in den Griff bekommen“.
Die PKK gibt sich keinen Illusionen hin und bereitet ihre Anhänger
bereits auf ein verhängnisvolles Ende vor, indem sie folgende Worte
hervorhebt, die Öcalan zugeschrieben werden: „Mein Tod wird der kurdischen
Sache noch mehr dienen als mein Leben.“ Ein Präsidentschaftsrat der
PKK, zu dem insbesondere Cemil Bayik, die Nummer zwei der Organisation,
sowie „Apos“ Bruder Osman Öcalan und Murat Karayalcin gehören,
hat am 18 Februar im kurdischen Sender MED-TV ein Communiqué verlesen
lassen, das zur „Ausweitung des Krieges auf alle zivilen und militärischen
Ziele in der Türkei und in Kurdistan und zur Fortsetzung der friedlichen
Demonstrationen im Ausland“ aufruft.
Die Vertreter dieser neuen Richtung meinen in der Tat, daß „alle
Mitglieder der PKK von nun an wie Fedajin leben und kämpfen werden“,
daß „die Türkei keinen Grund hat, sich zu freuen“, und daß
„ihr Öcalan bald bitter fehlen wird, der doch alles getan hat, um
zu verhindern, daß der Konflikt zwischen seinen Anhängern und
der türkischen Armee zu einem türkisch- kurdischen Krieg ausartet.“
Die Presse der PKK veröffentlicht zu diesem Thema regelmäßig
Leitartikel, die zu einer Radikalisierung des Kampfes aufrufen. Der Tenor
dieser Artikel lautet: Da die Welt für die Kurden zur Hölle geworden
ist, machen wir sie doch zu einer Hölle für die Türken und
ihre westlichen Verbündeten! Jeder Kurde möge zu einer wandelnden
Bombe werden, bis unser Opfer den Menschen in aller Welt endlich die Augen
für die kurdische Tragödie öffnet.
Es wäre falsch, diese der Verzweiflung entspringenden Drohungen
auf die leichte Schulter zu nehmen. Tausende, vielleicht Zehntausende Kurden
sind durchaus bereit, blinde Gewalttaten zu begehen. Aber die Türkei
bleibt taub gegenüber den elementarsten Forderungen, zu denen beispielsweise
die Anerkennung der sprachlichen Rechte gehört. In einer Erklärung
in der Tageszeitung Milliyet hat Präsident Süleyman Demirel jegliche
Öffnung der türkischen Kurdenpolitik abgelehnt und gesagt, den
Kurden das Recht auf eigene Schulen und Medien in ihrer Sprache zuzugestehen
könne nicht in Frage kommen, weil dies zur „Teilung des Landes“ führen
würde. Nach der Meinung seines Premierministers, eines „linken“ Ultranationalisten,
der für die Invasion in Zypern im Jahr 1974 verantwortlich ist, wird
Öcalans Ergreifung „endgültig zur Lösung der angeblichen
Kurdenfrage führen, die doch nur von ausländischen Zentren in
die Welt gesetzt wurde“.
Etwa 850000 Kurden leben heute in den verschiedenen westeuropäischen
Ländern. Der ständige, durch den Krieg verursachte Zustrom an
Flüchtlingen macht es immer schwieriger, die öffentliche Ordnung
zu wahren. Angesichts dieser Tatsachen muß es eigentlich im Interesse
der westlichen Regierungen liegen, in Ankara zu intervenieren. Sie allein
können die Türkei dazu zwingen, den 15 Millionen Kurden dieses
Landes einen annehmbaren Status zuzuerkennen. Dieser könnte übrigens
duchaus dem Status ähnlich sein, den die internationale Kontaktgruppe
gerade Serbien aufzuzwingen versucht, wo es darum geht, 1,8 Millionen Kosovo-Albaner
zu schützen. Von einer westlichen Politik, die „mit zweierlei Maß
mißt“, haben die Kurden inzwischen genug. Sollen sie denn - an der
Schwelle zum 21. Jahrhundert - das einzige Volk der Welt mit einer ähnlichen
zahlenmäßigen Bedeutung bleiben, dessen Existenzrecht nicht
anerkannt wird?
dt. Dorothea Schlink-Zykan
1 Ihsan Sabri Caglayangil, „Anilarim“ (Memoiren), Istanbul (Yilmaz
Yayinlari) 1990.
Präsident des Kurdischen Instituts in Paris.