Die verbotene Stadt vor dem Sturm
Newroz-Tag in Diyarbakir: Keine Feier, vor allem keine Ausländer
Von Gerd Schumann (Diyarbakir)
War es uniformierte Dummheit oder unerklärliches Glück, daß
wir nach Diyarbakir kamen, als erste Ausländer nach der Verschleppung
des PKK-Führers Abdullah Öcalans? Für Ausländer ist
die Stadt gesperrt. 103 Fremde, teilt der amtliche Abschieber uns
später mit, hätten bisher versucht, am Flughafen Diyarbakir einzureisen.
Alle seien abgewiesen und in den nächsten Flieger zurück nach
Ankara oder Istanbul gesetzt worden - bis auf einen Geschäftsmann.
Diyarbakir kurz vor Newroz, dem regionalen Neujahrsfest. Von den riesigen
Melonen, die in alten Zeiten wegen ihres enormen Gewichts bis zu hundert
Kilo auf Kamelen hertransportiert werden mußten, redet derzeit niemand
mehr. Vielmehr wird die Legende erzählt, daß einst in der „Stadt
der Bakr“, die heute häufig auch bei ihrem alten Namen „Amed“ genannt
wird, der Satan, der Stifter allen Übels, gefangengenommen, in eiserne
Ketten gelegt und am Tor des Palastes gehenkt wurde. So wurde die Stadt
von allerlei Plagen befreit, von Erdbeben, Fluten und Feuern.
Jetzt, kurz vor dem kurdischen Neujahrsfest, scheint der Satan wieder
einmal entwichen zu sein. Zwei eherne Grundsätze verfügte Ankaras
Statthalter für den 21. März, und die will er - koste es, was
es wolle - durchsetzen: Es darf keinen einzigen ausländischen Beobachter
in den Ausnahmezustandsprovinzen geben. Und: Newroz wird auf keinen Fall
gefeiert.
Die Bevölkerung dagegen scheint zur Feier entschlossen. Sie will
„auf kurdische Art“ draußen auf den Straßen und Plätzen
um Feuer tanzend das neue Jahr empfangen, und es ist davon auszugehen,
daß auch „die Kraft, die hier das Sagen hat“ - wie die drei Buchstaben
der illegalen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) konspirativ umschrieben
werden - ein Newroz-Fest unter jenem freiem Himmel befürwortet, der
ihrem Vorsitzenden auf der Gefängnisinsel verwehrt ist.
Seit Öcalans Verhaftung ist die kurdische Bevölkerung eng
zusammengerückt. Bis dahin vorhandene Meinungsverschiedenheiten waren
plötzlich nebensächlich. Der zunächst lähmende Schock
wurde mit den Tagen und Wochen nach und nach überwunden. Als Ministerpräsident
Bülent Ecevit seinen Wahlkampfauftakt ausgerechnet im Herzen Kurdistans
begehen wollte, befolgten bereits um 95 Prozent der Bevölkerung die
Orientierung der PKK: Die Rolläden der Geschäfte blieben erstmals
wieder seit den „Serhildan“-Volksaufständen Anfang der neunziger Jahre
heruntergelassen, auf den Straßen bewegte sich kaum jemand außer
jenen aus der Umgebung bestellten Jublern, Dorfschützern, Staatsbediensteten.
Die Leere von Diyarbakir konnten selbst günstig postierte Fernsehkameras
nicht auffüllen. Ecevits Ausflug in den Südosten geriet zum Fiasko.
In der Stadt wird - im Flüsterton - bei den voraussichtlichen Wahlen
am 18. April mit bis 80 Prozent Stimmen für die prokurdische „Demokratische
Volkspartei“ (Hadep) gerechnet, obwohl diese behindert und schikaniert
wird. So durfte der Kandidat für Lice die Stadt bisher nicht betreten,
und Diyarbakirs Kandidat für den Stadtkern „innerhalb der Mauern“
wurde zusammen mit seiner Tochter fünf Tage und Nächte hindurch
festgehalten - wie üblich ohne Begründung.
Diyarbakirs Supergouverneur agiert mit eiserner Faust. Ihm bereiten
Newroz und der Prozeßbeginn gegen Öcalan - wahrscheinlich noch
im März - Sorgen. Er befürchtet, daß sich die Neujahrstänze
in eine riesige, unbeherrschbare Demonstration für den PKK-Vorsitzenden
verwandeln könnten, denn der sei - so einer unserer Gesprächspartner
- in dieser Region nicht nur „anerkannte Führungspersönlichkeit“,
sondern werde „als derjenige angesehen, der das kurdische Bewußtsein
neu geschaffen“ habe. Viele Zeichen deuten auf blutige Angriffe einer
schwerbewaffneten Staatsgewalt auf demonstrierende Menschenmassen hin,
vielleicht die schlimmsten seit langem.
250 000 Einwohner zählte Diyarbakir vor 15 Jahren. Nach der Zerstörung
von 3 428 kurdischen Dörfern und der Vertreibung von drei Millionen
Menschen pegeln sich Schätzungen bei anderthalb Millionen ein. In
den vergangenen zehn Jahren wurde die einst reiche Handelsmetropole an
der Seidenstraße zum Pulverfaß. Im Juni 1991, nach Beerdigung
des bekannten kurdischen Politikers Vedat Aydin, der von Geheimpolizisten
verschleppt und bestialisch ermordet worden war, lagen 15 Tote in den Straßen,
von der Armee erschossen oder in Panik von der Festungsmauer gedrängt.
Abgestürzt, schwer verletzt, zerschmettert, Knochensplitter auf rotgefärbtem
Boden. Dreißig Meter Höhe erreicht die schwarze Basaltmauer,
die die Stadt auf über fünf Kilometern Länge seit fast zwei
Jahrtausenden umfaßt und die - so heißt es hier - vom Mond
aus zu erkennen ist.
Beeindruckend sind die Absperrungen um das Gerichtsgebäude, in
dem an unserem zweiten Morgen in Diyarbakir das 3. Schwurgericht zusammentreten
sollte. Auf 9.30 Uhr war der Beginn des neunten Verhandlungstages gegen
einige Dutzend Gefängniswärter und Soldaten festgesetzt. Offiziell
sind sie angeklagt wegen „Überschreitung der Selbstverteidigungsgrenze
und Tötung eines Menschen“. In Wirklichkeit hatten die Uniformierten
im September 1996 zehn politischen Gefangenen der „Hölle Nr. 5“, wie
das E-Typ-Gefängnis der Stadt genannt wird, mit Eisenstangen die Schädel
eingeschlagen und 24 weitere schwer verletzt.
Um 9.20 Uhr brach der Anfang vom Ende unseres Kurdistan-Aufenthalts
an. Ein Mann mit dunkler Sonnenbrille und langem Kaschmirmantel herrschte
uns an, fassungslos, Ausländern in Diyarbakir zu begegnen, noch dazu
anläßlich dieses für seine Zunft so unerquicklichen Prozesses.
Natürlich interessierte ihn brennend, auf welchem Weg und wann wir
dem Ausnahmezustandsgouverneur ein Schnippchen geschlagen hatten und in
die Stadt gelangt waren. Also ließ er uns gewaltsam in ein Fahrzeug
verfrachten und versuchte in den nun folgenden sechs Stunden in der Polizeizentrale,
einiges über uns unbotmäßige Besucher herauszubekommen.
Schließlich bekamen wir fünf Minuten, um im Hotel unter
Machinenpistolen-Bewachung unsere Koffer zu packen, wurden sechs Stunden
später am Flugplatz in einem Polizeifahrzeug von den übrigen
Fluggästen abgesondert und zu einer Maschine der „Turkish Airlines“
verbracht. Draußen, in dunkler Nacht, waren noch gerade der Kaschmirmantel
und die dunkle Sonnenbrille erkennbarm bis der Flieger abhob. Ab sofort
würde auch der Busweg für Ausländer dicht gemacht und Diyarbakir
endgültig zur „verbotenen Stadt.“