„Sie wollen, daß wir verschwinden“
Viele Kurden, die fliehen mußten, leben im Slum von Istanbul.
Seit Öcalans Festnahme ist ihr Leben verändert. Menschenrechtler
beklagen ein „Klima massiven Terrors“.
Von FRANK HERRMANN
Aus dem Bach riecht es streng nach Chemieabfällen. Kinder spielen
mit weggeworfenen Plastiktüten. Schmutzgraue Gänse watscheln
durch den Morast, Frauen in bunten Kleidern balancieren Wäschekörbe
über eine Brücke aus Holzlatten. Links und rechts des stinkenden
Rinnsals wohnen einige hundert Menschen. Bahceli Cesme, Gartenquelle, haben
sie ihr armseliges Viertel genannt.
Mag sein, daß es hier früher mal Gärten gab.
Aber heute sirren die Drähte einer Hochspannungsleitung über
den Köpfen der Bewohner. Eine Straße gibt es nicht. Der Weg
am Bach gleicht einer Schlammwüste. Und Vadet Celik (Name geändert)
nimmt sich in dieser Gegend aus wie ein Börsianer in einer Dorfkneipe.
Der Herr im feinen Zwirn kommt nicht etwa nach Bahceli Cesme, um Schulden
von säumigen Mietern einzutreiben. Er lebt hier. Mit seiner Frau und
drei Kindern bewohnt er eine Baracke mit zwei winzigen Zimmern. Eine Hausecke
ist frisch gemauert, die Ziegelsteine sind an dieser Stelle noch nicht
verputzt. Bulldozer hatten vor ein paar Wochen begonnen, die Hütte
niederzureißen. Sie haben es dann bei der einen Ecke belassen. „Es
war eine Warnung“, sagt Vadet. „Beim nächsten Mal machen sie alles
kaputt.“
Der Kurde zahlt keine Pacht für das Grundstück, auf dem sein
Haus steht. Das würde er zwar gerne tun, darf es aber nicht. Er hat
sich wieder einen Anzug geliehen und ist mit dicken Geldbündeln ins
Gemeindeamt gelaufen. Aber auch diesmal haben sie ihn weggeschickt. „Sie
wollen nicht, daß Kurden hier leben“, sagt Vadet. „Sie wollen,
daß wir verschwinden.“
Die Celiks wohnen illegal in Bahceli Cesme, so wie alle hier. Vor fünf
Jahren sind sie aus einem Dorf bei Mus, weit hinten im Osten, hergezogen.
Vadet war Bauer. Noch immer schwärmt er von den Walnüssen und
Pfirsichen, den Aprikosen und Granatäpfeln, die ihm ein gutes Auskommen
sicherten. Eines Tages kamen Soldaten und setzten ihm die Pistole auf die
Brust: „Entweder du kämpfst mit uns gegen die PKK, oder du kannst
gleich abhauen.“ Vadet entschied sich für die Flucht.
Buchstäblich über Nacht zog er mit Hilfe von Nachbarn sein
Haus in Bahceli Cesme hoch. Was in einer einzigen Nacht gebaut wird,
darf nach altem Gewohnheitsrecht stehenbleiben.
Der Slum gehört zu Esenyurt, einer jener Satellitenstädte,
die sich von Istanbul aus immer weiter ins Land hineinfressen. Esenyurt
liegt im äußersten Westen der Bosporusmetropole, an der Autobahn
Richtung Griechenland und Bulgarien. Vor zwanzig Jahren war es ein beschauliches
Dorf mit 700 Einwohnern, heute leben hier 250 000 Menschen.
Die Stimmung ist aufgeheizt
Den Vorort als Armensiedlung abzutun, wäre zu einfach. Denn auf den Hügeln hoch über dem stinkenden Bach stehen schmucke Hochhäuser mit teuren Appartements, wie sie in jede mitteleuropäische Stadt passen würden. Große Firmen haben Zweigstellen gegründet, im Stadtzentrum glitzern die Lampen einer Fußgängerzone, und das neue Freilichttheater wurde von Staatspräsident Süleyman Demirel eingeweiht. Wenn türkische Politiker von Fortschritt und Wohlstand reden, dann verweisen sie gern auf Beispiele wie Esenyurt. Eine Zeitlang hatte auch Vadet Celik als Maurer einen halbwegs sicheren Job. Doch seit Mitte Februar, seit Abdullah Öcalan zum erstenmal als Gefangener mit verbundenen Augen im Fernsehen auftauchte, hat sich das Blatt gewendet. Von einem Tag auf den anderen verlor Vadet seine Arbeit. „Der Besitzer ist Türke. Er hat uns Kurden kurzerhand entlassen.“ Natürlich habe er den wahren Grund nicht genannt. Aber mit Geburtsorten wie Diyarbakir, Siirt oder Mus im Ausweis, da werde man in solchen Zeiten automatisch zuerst gefeuert. Die Stimmung ist aufgeheizt. Generale und Politiker haben sich in einen Machtrausch gesteigert. Auch mancher türkische Normalverbraucher sucht einen Sündenbock, an dem er seine angestaute Wut ablassen kann. Göttinger Menschenrechtler, gerade von einer Türkei-Reise zurückgekehrt, erklärten gestern, in dem Land herrsche seit Öcalans Festnahme ein „Klima massiven Terrors“. Tausende Kurden und Oppositionelle seien in den vergangenen Tagen festgenommen und ins Gefängnis gebracht worden.
Angst vor den Parlamentswahlen
Die Runde, die sich im Büro der prokurdischen Hadep-Partei versammelt
hat, wollte sich eigentlich eine Talk-Show des Londoner Kurdensenders Med-TV
anschauen. Nicht jeder in Esenyurt kann sich eine eigene Statellitenschüssel
leisten, also wird das Parteibüro schnell mal zum Kino. Aber heute
haben sie Pech. Der Strom ist wieder einmal ausgefallen, wie schon so oft
in jüngster Zeit. Niemand in der Runde glaubt an einen Zufall.
Seyfettin muß seine schwieligen Hände festhalten, so sehr zittern
sie vor Zorn. „Wer den Hirten der Herde tötet, den wird die Herde
angreifen“, zitiert er ein kurdisches Sprichwort. An der Wand hängt
ein Bild Öcalans, daneben das Konterfei von Scheich Said, der den
blutig niedergeschlagenen Kurdenaufstand von 1925 anführte. „Den einen
Apo können sie besiegen“, sagt Seyfettin. „Aber tausend neue Apos
werden folgen. Wenn Europa die Türkei nicht zur Vernunft bringt, wenn
wir gar kein Licht mehr sehen, dann werden wir alles in Brand stecken.
Dann bleiben uns nur die Bomben.“
Die meisten in der Runde schauen betreten zu Boden. Einerseits kochen
auch sie innerlich. Andererseits finden sie, daß man Gästen
gegenüber nicht so grob sein sollte.
Der alte Abdulmenaf hat von 1970 bis 1973 als Stahlkocher in Salzgitter
gearbeitet. Als er genug gespart hatte, kehrte er nach Hause zurück,
gründete mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau eine Familie.
Das Paar hat acht Kinder. Das älteste ist 26, das jüngste drei.
Noch vor sechs Jahren lebte Abdulmenaf in Arbo, einem Weiler bei Siirt,
weit mehr als tausend Kilometer von Istanbul entfernt. Als die Männer
von Arbo auf seiten der Armee kämpfen sollten, willigten von den knapp
hundert Familienoberhäuptern ungefähr sechzig ein. Die anderen
wurden aus dem Dorf getrieben. Abdulmenaf mußte noch mitansehen,
wie die Soldaten sein Haus mit Benzin übergossen und anzündeten.
Zu seinen Verwandten daheim hat er kaum noch Kontakt. Er darf Arbo
nicht mehr besuchen. Was der 66jährige verlangt, klingt nicht
nach einer Revolution: „Du sollst offen sagen können, daß du
Kurde bist. Du sollst dich nicht verleugnen müssen.“ Sicher, mit Hikmet
Cetin leite ein Kurde das Parlament. Sicher, mit Ibrahim Tatlises sei ein
Kurde der erfolgreichste Sänger des Landes. Und auch unter den
reichsten Unternehmern fänden sich kurdische Namen: „Aber die vergessen,
woher sie kommen. Auch der Parlamentschef darf nicht sagen, daß er
Kurde ist. Sonst ist er sein Amt los.“
„Ich will leben wie ein ganz normaler Mensch“, sagt Vadet Celik. Ein
Damoklesschwert schwebt über ihm. Der Tag, an dem es herabsausen könnte,
steht schon fest. Es ist der 18. April. An diesem Tag wählt die Türkei
ein neues Parlament und neue Bürgermeister. In Esenyurt kandidiert
ein ehemaliger Armeeoffizier für die konservative Mutterlandspartei.
Er hat gute Chancen. „Wenn der Soldat gewinnt“, fürchtet Vadet, „dann
müssen wir weg. Er verkündet es jetzt schon jeden Tag: ,Wenn
ich Bürgermeister werde, werfe ich alle Kurden raus’.“