Hamburger Abendblatt 18.3.99

„Sie wollen, daß wir verschwinden“
Viele Kurden, die fliehen mußten, leben im Slum von Istanbul. Seit Öcalans Festnahme ist ihr Leben verändert. Menschenrechtler beklagen ein „Klima massiven Terrors“.

Von FRANK HERRMANN

Aus dem Bach riecht es streng nach Chemieabfällen. Kinder spielen mit weggeworfenen Plastiktüten. Schmutzgraue Gänse watscheln durch den Morast, Frauen in bunten Kleidern balancieren Wäschekörbe über eine Brücke aus Holzlatten. Links und rechts des stinkenden Rinnsals wohnen einige hundert Menschen. Bahceli Cesme, Gartenquelle, haben sie ihr armseliges Viertel genannt.
Mag sein, daß es hier früher mal Gärten gab.
Aber heute sirren die Drähte einer Hochspannungsleitung über den Köpfen der Bewohner. Eine Straße gibt es nicht. Der Weg am Bach gleicht einer Schlammwüste. Und Vadet Celik (Name geändert) nimmt sich in dieser Gegend aus wie ein Börsianer in einer Dorfkneipe.
Der Herr im feinen Zwirn kommt nicht etwa nach Bahceli Cesme, um Schulden von säumigen Mietern einzutreiben. Er lebt hier. Mit seiner Frau und drei Kindern bewohnt er eine Baracke mit zwei winzigen Zimmern. Eine Hausecke ist frisch gemauert, die Ziegelsteine sind an dieser Stelle noch nicht verputzt. Bulldozer hatten vor ein paar Wochen begonnen, die Hütte niederzureißen. Sie haben es dann bei der einen Ecke belassen. „Es war eine Warnung“, sagt Vadet. „Beim nächsten Mal machen sie alles kaputt.“
Der Kurde zahlt keine Pacht für das Grundstück, auf dem sein Haus steht. Das würde er zwar gerne tun, darf es aber nicht. Er hat sich wieder einen Anzug geliehen und ist mit dicken Geldbündeln ins Gemeindeamt gelaufen. Aber auch diesmal haben sie ihn weggeschickt. „Sie wollen nicht, daß Kurden hier leben“, sagt Vadet.  „Sie wollen, daß wir verschwinden.“
Die Celiks wohnen illegal in Bahceli Cesme, so wie alle hier. Vor fünf Jahren sind sie aus einem Dorf bei Mus, weit hinten im Osten, hergezogen.  Vadet war Bauer. Noch immer schwärmt er von den Walnüssen und Pfirsichen, den Aprikosen und Granatäpfeln, die ihm ein gutes Auskommen sicherten. Eines Tages kamen Soldaten und setzten ihm die Pistole auf die Brust: „Entweder du kämpfst mit uns gegen die PKK, oder du kannst gleich abhauen.“ Vadet entschied sich für die Flucht.
Buchstäblich über Nacht zog er mit Hilfe von Nachbarn sein Haus in Bahceli Cesme hoch.  Was in einer einzigen Nacht gebaut wird, darf nach altem Gewohnheitsrecht stehenbleiben.
Der Slum gehört zu Esenyurt, einer jener Satellitenstädte, die sich von Istanbul aus immer weiter ins Land hineinfressen. Esenyurt liegt im äußersten Westen der Bosporusmetropole, an der Autobahn Richtung Griechenland und Bulgarien. Vor zwanzig Jahren war es ein beschauliches Dorf mit 700 Einwohnern, heute leben hier 250 000 Menschen.

Die Stimmung ist aufgeheizt

Den Vorort als Armensiedlung abzutun, wäre zu einfach. Denn auf den Hügeln hoch über dem stinkenden Bach stehen schmucke Hochhäuser mit teuren Appartements, wie sie in jede mitteleuropäische Stadt passen würden. Große Firmen haben Zweigstellen gegründet, im Stadtzentrum glitzern die Lampen einer Fußgängerzone, und das neue Freilichttheater wurde von Staatspräsident Süleyman Demirel eingeweiht. Wenn türkische Politiker von Fortschritt und Wohlstand reden, dann verweisen sie gern auf Beispiele wie Esenyurt. Eine Zeitlang hatte auch Vadet Celik als Maurer einen halbwegs sicheren Job. Doch seit Mitte Februar, seit Abdullah Öcalan zum erstenmal als Gefangener mit verbundenen Augen im Fernsehen auftauchte, hat sich das Blatt gewendet. Von einem Tag auf den anderen verlor Vadet seine Arbeit. „Der Besitzer ist Türke. Er hat uns Kurden kurzerhand entlassen.“ Natürlich habe er den wahren Grund nicht genannt. Aber mit Geburtsorten wie Diyarbakir, Siirt oder Mus im Ausweis, da werde man in solchen Zeiten automatisch zuerst gefeuert. Die Stimmung ist aufgeheizt. Generale und Politiker haben sich in einen Machtrausch gesteigert. Auch mancher türkische Normalverbraucher sucht einen Sündenbock, an dem er seine angestaute Wut ablassen kann. Göttinger Menschenrechtler, gerade von einer Türkei-Reise zurückgekehrt, erklärten gestern, in dem Land herrsche seit Öcalans Festnahme ein „Klima massiven Terrors“. Tausende Kurden und Oppositionelle seien in den vergangenen Tagen festgenommen und ins Gefängnis gebracht worden.

Angst vor den Parlamentswahlen

Die Runde, die sich im Büro der prokurdischen Hadep-Partei versammelt hat, wollte sich eigentlich eine Talk-Show des Londoner Kurdensenders Med-TV anschauen. Nicht jeder in Esenyurt kann sich eine eigene Statellitenschüssel leisten, also wird das Parteibüro schnell mal zum Kino. Aber heute haben sie Pech. Der Strom ist wieder einmal ausgefallen, wie schon so oft in jüngster Zeit.  Niemand in der Runde glaubt an einen Zufall.  Seyfettin muß seine schwieligen Hände festhalten, so sehr zittern sie vor Zorn. „Wer den Hirten der Herde tötet, den wird die Herde angreifen“, zitiert er ein kurdisches Sprichwort.  An der Wand hängt ein Bild Öcalans, daneben das Konterfei von Scheich Said, der den blutig niedergeschlagenen Kurdenaufstand von 1925 anführte. „Den einen Apo können sie besiegen“, sagt Seyfettin. „Aber tausend neue Apos werden folgen. Wenn Europa die Türkei nicht zur Vernunft bringt, wenn wir gar kein Licht mehr sehen, dann werden wir alles in Brand stecken. Dann bleiben uns nur die Bomben.“
Die meisten in der Runde schauen betreten zu Boden. Einerseits kochen auch sie innerlich.  Andererseits finden sie, daß man Gästen gegenüber nicht so grob sein sollte.
Der alte Abdulmenaf hat von 1970 bis 1973 als Stahlkocher in Salzgitter gearbeitet. Als er genug gespart hatte, kehrte er nach Hause zurück, gründete mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau eine Familie. Das Paar hat acht Kinder. Das älteste ist 26, das jüngste drei.
Noch vor sechs Jahren lebte Abdulmenaf in Arbo, einem Weiler bei Siirt, weit mehr als tausend Kilometer von Istanbul entfernt. Als die Männer von Arbo auf seiten der Armee kämpfen sollten, willigten von den knapp hundert Familienoberhäuptern ungefähr sechzig ein. Die anderen wurden aus dem Dorf getrieben.  Abdulmenaf mußte noch mitansehen, wie die Soldaten sein Haus mit Benzin übergossen und anzündeten.
Zu seinen Verwandten daheim hat er kaum noch Kontakt. Er darf Arbo nicht mehr besuchen.  Was der 66jährige verlangt, klingt nicht nach einer Revolution: „Du sollst offen sagen können, daß du Kurde bist. Du sollst dich nicht verleugnen müssen.“ Sicher, mit Hikmet Cetin leite ein Kurde das Parlament. Sicher, mit Ibrahim Tatlises sei ein Kurde der erfolgreichste Sänger des Landes.  Und auch unter den reichsten Unternehmern fänden sich kurdische Namen: „Aber die vergessen, woher sie kommen. Auch der Parlamentschef darf nicht sagen, daß er Kurde ist. Sonst ist er sein Amt los.“
„Ich will leben wie ein ganz normaler Mensch“, sagt Vadet Celik. Ein Damoklesschwert schwebt über ihm. Der Tag, an dem es herabsausen könnte, steht schon fest. Es ist der 18. April. An diesem Tag wählt die Türkei ein neues Parlament und neue Bürgermeister. In Esenyurt kandidiert ein ehemaliger Armeeoffizier für die konservative Mutterlandspartei. Er hat gute Chancen. „Wenn der Soldat gewinnt“, fürchtet Vadet, „dann müssen wir weg. Er verkündet es jetzt schon jeden Tag: ,Wenn ich Bürgermeister werde, werfe ich alle Kurden raus’.“