Türkische Armee droht indirekt mit dem Griff nach der Macht
Von Evangelos Antonaros
Athen/Istanbul Nach langem Schweigen hat der türkische Generalstabschef
Ankaras Politiker davor gewarnt, die Toleranzschwelle der Armeespitze zu
überschreiten. „Wir sind zutiefst besorgt, weil eine Verschiebung
des Wahltermins Chaos und Unsicherheit auslösen würde“, sagte
Hüseyin Kivrikoglu dem Massenblatt „Hürriyet“.
Der erst seit dem Sommer amtierende Vier-Sterne-General hat sich den
Zeitpunkt seiner vielbeachteten Äußerungen bewußt ausgesucht:
Noch am Donnerstag sollte das Parlament entscheiden, ob ein Mißtrauensvotum
auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Fällt die Minderheitsregierung des Sozialdemokraten Bülent
Ecevit, so wäre der für den 18. April vorgesehene Wahltermin
kaum einzuhalten.
Kivrikoglu hat sich allerdings nicht nur auf den Wahltermin beschränkt:
Noch stärker beschäftigen das Militär die Bestrebungen zahlreicher
Abgeordneter, Bestimmungen aus dem Strafgesetzbuch abzuschaffen, die bisher
als Riegel gegen den Vormarsch der Islamisten gedient haben.
„Wir können und wollen solche Änderungen nicht hinnehmen“,
sagte der Sprecher der Generalität, die sich als Hüter der säkularen
Staatsideologie betrachtet. Seit 1960 hat die Armee insgesamt dreimal gegen
frei gewählte Regierungen geputscht. Im Sommer 1997 hatte die Armee
im Hintergrund den Sturz des islamistischen Premiers Necmettin Erbakan
betrieben.
Das Militär befürchtet, daß durch die Abschaffung der
Paragraphen, die die sogenannte Aufwiegelung gegen den Staat drakonisch
bestrafen, ein Comeback des mit einem fünfjährigen politischen
Betätigungsverbots bestraften Erbakan ermöglicht werden könnte.
Das Parlament tagt nur dank eines Zweckbündnisses zwischen etwa 100
bei der künftigen Parlamentswahl nicht wiederaufgestellten Politikern
aller Parteien und der islamistischen Tugend-Partei. Die Islamisten wollen
die Aufhebung des Verbots gegen Erbakan durchsetzen. Die „enttäuschten
Nicht-Kandidaten“ wollen hingegen den Wahltermin verschieben, um dadurch
ihre jeweilige Parteispitze unter Druck zu setzen.
Ecevit gibt sich zwar ungebrochen optimistisch, aber dem Zufall will
er nichts überlassen: „Die Wahlen müssen stattfinden, sonst ist
die Stabilität im Lande gefährdet.“ Der Premier, der von der
Festnahme des PKK-Chefs Öcalan sein Prozeß wird nicht
vor April eröffnet innenpolitisch profitiert, befürchtet
nicht nur, daß es bei einem späteren Wahltermin mit seiner Popularität
dahin wäre. Er muß auch Angst davor haben, daß die Generäle
die Geduld verlieren und direkt nach der Macht greifen.