Rigide hält die Polizei Istanbul im Griff
Menschenrechtler prangern de-facto-Ausnahmezustand zum kurdischen
Newroz an
Von Dieter Balle (Istanbul) und Gerd Höhler (Athen)
Die nach Anschlägen massiv verstärkte Präsenz der Polizei
in türkischen Großstädten hat am Wochenende in Istanbul
mehrere Feiern zum kurdischen Neujahrsfest aufgelöst. Menschenrechtler
kritisieren das Vorgehen und sprechen von einem de-facto-Ausnahmezustand.
Ayten S. macht um Mülltonnen einen großen Bogen. Die 42jährige
Ärztin will kein Risiko eingehen. Tief sitzt der Schock über
den Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Bakirköy. 13 Menschen wurden
getötet. Trotz allgegenwärtiger Polizeipräsenz sind dort
mittlerweile viel weniger Kunden unterwegs. Den Istanbuler Behörden
geht es in diesen Tagen darum, mit einem massiv verstärkten Polizeiaufgebot
die Touristikindustrie zu beruhigen.
Kritiker sehen das anders. Etwa der Generalsekretär des türkischen
Menschenrechtsvereins IHD, Hüsnü Öndül. Er spricht
von einem De-facto-Ausnahmezustand in Istanbul wie in allen türkischen
Metropolen, der zu einer bedenklichen Einschränkung der demokratischen
Rechte der Bürger geführt habe. So herrscht nicht mehr nur in
den kurdischen Provinzen, sondern in der gesamten Türkei trotz des
laufenden Wahlkampfes absolutes Versammlungsverbot. Menschenrechtler berichten
von präventiven Festnahmen in großem Stil, der Istanbuler Polizeipräsident
habe Schießbefehl bei ungenehmigten Demonstrationen erteilt.
In einem öffentlichen Appell versuchten IHD sowie verschiedene
gemäßigte linke und kurdenfreundliche Organisationen die Behörden
zum kurdischen Neujahrsfest Newroz dazu zu bewegen, das strikte Versammlungsverbot
zu lockern. Ein Aufruf, der auf taube Ohren stieß. Vor allem
die durchweg nationalistische Massenpresse mit ihrer Stimmungsmache auch
gegen kurdenfreundliche legale Parteien wie die Demokratiepartei des Volkes,
Hadep, heizte die Spannungen zwischen der türkischen Mehrheit und
der auf zwei Millionen geschätzten kurdischstämmigen Minderheit
in Istanbul weiter an. In den hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadtrandvierteln
patroullieren tagsüber Zivilstreifen und Uniformierte, des nachts
gepanzerte Polizeifahrzeuge.
Immer wieder gebe es Razzien, bei denen wahllos Jugendliche in Gewahrsam
genommen würden, erzählt der kurdische Student Mustafa.
Gerade erst sei er nach dreitägiger Haft entlassen worden. Wegen Aufforderung
zu einer Ladenschließaktion, ein gängiges Prostestmittel im
Viertel, war er zusammen mit Freunden festgenommen worden. Zwei Tage lang
sei er geschlagen worden, so daß er nicht mehr gehen konnte, gab
er beim IHD zu Protokoll. Mustafa fügte ein Attest bei.
Das im Vergleich zu den Vorjahren weitaus rigorosere Vorgehen der Polizei
dürfte mit dem Fall Öcalan zusammenhängen. Der Mitte Februar
in türkische Hände gefallene PKK-Chef wartet auf der Gefängnisinsel
Imrali auf seinen Prozeß. In Istanbul löschte die Polizei am
Sonntag mehrere Newroz-Feuer, wie sie von den Kurden zum Neujahrsfest entzündet
werden. Im Stadtteil Yenibosna löste die Polizei eine Newroz-Feier
mit Warnschüssen auf. Etwa 100 Menschen wurden in Gewahrsam genommen.
Auch in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir löschten
die Sicherheitskräfte mehrere Newroz-Feuer. Diyarbakir war, wie schon
seit Wochen, für ausländische Beobachter abgeriegelt. Mit Kontrollen
auf dem Flughafen der Stadt und an den nach Diyarbakir führenden Überlandstraßen
versuchte die Polizei Ausländer abzufangen. Augenzeugen berichteten
von einem Großaufgebot gepanzerter Fahrzeuge und verstärkten
Polizeistreifen. In der Provinz Mardin wurden vier türkische Journalisten,
unter ihnen ein Korrespondent der Nachrichtenagentur Reuter, festgenommen
und in die Westtürkei abgeschoben.
Ein mutmaßlicher PKK-Attentäter sprengte sich nahe der osttürkischen
Stadt Baskale in die Luft, als er in eine Straßenkontrolle der Polizei
geriet. Der etwa 25jährige Mann zündete eine am Körper
getragene Bombe. Er war sofort tot, drei Polizisten wurden leicht verletzt.
In mehreren deutschen Städten feierten Tausende Kurden am Wochenende
ihr Neujahrsfest friedlich. Nach Angaben der Polizei gab es keine Zwischenfälle.