Schießereien in Istanbul bei Newroz-Feiern
Festnahmen in Ankara - Friedliche Feste in Deutschland
ISTANBUL (dpa/afr). In Istanbul ist es am Sonntag zu schweren Zusammenstößen
und Schießereien zwischen kurdischen Demonstranten und der türkischen
Polizei gekommen.
Nach offiziellen Angaben versuchten Kurden in mehreren Stadtteilen,
anläßlich des Frühlingsfestes Newroz für die militante
Separatistenorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zu demonstrieren.
Im Stadtteil Gazi Mahallesi wurde von beiden Seiten auch gezielt geschossen.
Dabei wurden ein Demonstrant am Kopf und zwei Polizisten am Körper
von Kugeln getroffen.
Nach weiteren Angaben der Polizei wurden allein in Istanbul rund 500
Personen festgenommen. Die Zahl der Verletzten sei zunächst unklar.
Die Bereitschaftspolizei versuche, die Lage unter Kontrolle zu halten.
Weitere rund 500 Festnahmen meldete der private türkische Nachrichtensender
NTV aus der südostanatolischen Provinzhauptstadt Diyarbakir. Hier
waren Newroz-Feiern mit dem Anzünden der traditionellen Feuer gänzlich
verboten. Wer dennoch alte Autoreifen oder Holz anzünden wollte, wurde
von der Polizei dabei gehindert und zumeist festgenommen. Bereits im Vorfeld
des Festes wurden Hunderte von Mitgliedern der prokur_dischen Hadep-Partei,
kleiner Linksparteien und Besucher von kurdennahen Kulturzentren vorsorglich
verhaftet.
Auch aus der Hauptstadt Ankara sowie aus vielen Städten wurden
verbotene Demonstrationen von Kurden mit vielen Festnahmen gemeldet. Allerdings
blieben zunächst Berichte über Zusammenstöße aus.
In den überwiegend von Kurden bewohnten Provinzen im Südosten,
außer Diyarbakir, wurde ein ruhiger Verlauf der Feiern zum Newroz-Fest
gemeldet, nachdem vielerorts die Provinzgouverneure selbst die Feuer anzündeten
und die Ritualien einleiteten.
Das Newroz-Fest zum Frühlingsanfang wird in vielen Regionen begangen,
besonders farbig etwa im Iran und bei den Turkvölkern Zentralasiens.
Für die Kurden ist der ¸¸Neue Tag’’ zu einem Symbol von
Freiheit und Identität geworden und hat damit im Laufe der Zeit vor
allem auch eine politische Dimension bekommen.
Auch in Deutschland haben Tausende von Kurden friedlich das Newroz-Fest
gefeiert. Nach Angaben der Polizei gab es keine Zwischenfälle. Vereinzelt
wurden auch Fahnen und Symbole der PKK sowie Bilder des festgenommenen
PKK-Führers Abdullah Öcalan gezeigt. Eine der größten
Kundgebungen gab es in Berlin, wo am Samstag abend rund 2000 Kurden friedlich
demonstrierten. Ebenfalls ohne Zwischenfälle verliefen die Feiern
der Kurden in Baden-Württemberg. Die größte Kundgebung
des Landes fand in Stuttgart mit rund 1000 Teilnehmern statt. In Freiburg
nahmen etwa 750 Menschen an dem Protest der Kurden teil. In Ulm demonstrierten
rund 600 Kurden mit einem Fackelzug.
Berliner Zeitung 22.3.99
Festnahmen während des kurdischen Neujahrsfests
Deutsche Menschenrechtsdelegation festgesetzt / Ein Toter bei Selbstmordanschlag
in der Osttürkei
Von Sigrid Averesch
ANKARA/BERLIN, 21. März. Zu Massenverhaftungen ist es am Wochenende
in der Türkei während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz gekommen.
Nach Angaben des Newroz-Delegationsbüros in Troisdorf sind in der
gesamten Türkei mindestens 7 000 Menschen von der Polizei festgenommen
worden. Allein in Diyarbakir wurden rund 4 000 Menschen, darunter auch
Mitglieder der prokurdischen Hadep-Partei verhaftet. Das Büro beruft
sich auf Angaben von Hadep-Mitgliedern. Türkische Behörden meldeten
demgegenüber über 2 000 Festnahmen.
In Diyarbakir waren Newrozfeiern mit dem Anzünden traditioneller
Feuer gänzlich verboten. Bereits seit Jahren dürfen Menschenrechtsdelegationen
und ausländische Journalisten zu Newroz nicht den Südosten der
Türkei besuchen. Dort wie auch in der südtürkischen Stadt
Adana kam es zu schweren Zusammenstößen. Ein Kind sei von einem
Panzer überrollt worden, hieß es aus dem Delegationsbüro.
In Istanbul wurden mehr als 700 Personen festgenommen. „Es herrscht
eine bedrohliche Situation“, sagte die PDS-Landtagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt,
Gudrun Tiedge, die sich als Mitglied einer Menschenrechtsdelegation in
der Türkei aufhält, im Telefongespräch mit dieser Zeitung.
Parteibüro durchsucht
„Es herrscht eine hohe Militärpräsenz“, schilderte Tiedge
die Situation in Istanbul. Dort nahm die Polizei bei der Durchsuchung des
örtlichen Parteibüros der prokurdischen Hadep-Partei und eines
Kulturzentrums mehrere hundert Menschen in Gewahrsam. Das Schicksal von
zwei deutschen Dolmetscherinnen ist ungeklärt. „Es wurde nicht gesagt,
weshalb sie festgenommen und wohin sie gebracht wurden“, sagte Tiedge.
Im Istanbuler Stadtteil Gazi Mahallasi schossen nach Angaben des Newroz-Delegationsbüro
Polizisten auf Kurden, die ein Newroz-Feuer entzündet hatten. Drei
Menschen, darunter ein zehnjähriger Junge, wurden verletzt.
Das Büro beruft sich auf Augenzeugenberichte einer niederländischen
und belgischen Menschenrechtsdelegation.
In der südostanatolischen Provinz Batman seien 50 Kinder und Jugendliche
verhaftet worden, teilte das Büro mit. Seinen Informationen
zufolge wurden 19 Deutsche verhaftet oder über Stunden in Gewahrsam
genommen, so eine Gruppe mit dem Thüringer PDS-Landtagsabgeordneten
Steffen Dittes in Nusaybin nahe der syrischen Grenze.
Am Sonntag abend waren noch neun Deutsche in Haft, die in Adana an
nicht genehmigten Newrozfeiern teilgenommen hatten. Nach Angaben der deutschen
Botschaft in Ankara sollen sie am heutigen Montag vor ein Staatssicherheitsgericht
gestellt werden. Das Auswärtige Amt bat die Türkei um „unverzügliche
Aufklärung“.
Der Einsatz der türkischen Sicherheitskräfte wurde von einem
Krisenstab geleitet. Hunderte von Festnahmen und weitere Verletzte wurden
aus verschiedenen Landesteilen gemeldet. Bei einem Selbstmordanschlag im
Ort Van im Osten der Türkei wurden am Sonnabend ein Mensch getötet
und drei weitere verletzt, berichtete Anadolu. Eine Explosion ereignete
sich am Sonntag an der Erdölpipeline aus dem Irak ins türkische
Ceyhan. Die Polizei vermutet Sabotage.
Angesichts der PKK-Drohungen gegen deutsche Urlauber versicherte der
türkische Regierungschef Bülent Ecevit, diese könnten sein
Land unbesorgt besuchen. Der „Welt am Sonntag“ sagte Ecevit, die Türkei
habe „alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, um die Sicherheit
aller Urlauber zu gewährleisten“. Die PKK habe bereits früher
mit Anschlägen auf Touristen gedroht. Die dagegen getroffenen Maßnahmen
hätten ihr „keine Chance gegeben“, ihre Ziele zu erreichen, so Ecevit.
In Deutschland verliefen die Newrozfeiern dagegen friedlich. (mit Reuters,
ADN)