Die Feuer sind gelöscht, der Konflikt schwelt
Während PPK-Chef Öcalan auf seinen Prozeß wartet,
zieht Ankara die Schraube der Repression weiter an
Von Gerd Höhler
Das größte Newroz-Feuer brannte bei Midyat in der südostanatolischen
Provinz Mardin. Hoch loderten die Flammen in den Himmel, ein riesiger schwarzer
Rauchpilz stand über jener Pipeline, durch die täglich eine halbe
Million Faß irakisches Rohöl zum türkischen Mittelmeerhafen
Yumurtalik gepumpt werden. Dem Brand ging eine Explosion voraus, mutmaßlich
ein Sprengstoffanschlag kurdischer Rebellen. Mehrere Stunden dauerte es,
bis die Flammen unter Kontrolle waren.
Leichter hatten es die türkischen Sicherheitskräfte bei den
anderen Löschaktionen dieses Newroz-Sonntages, des kurdischen Neujahrsfestes.
In Istanbul löschte die Polizei mehrere der traditionellen Newroz-Feuer,
desgleichen in der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakir.
Mal wurden die Flammen mit Hilfe von Wasserwerfern erstickt, mal die Feuerwehr
gerufen, dann wieder walzten die Sicherheitskräfte die Feuer einfach
mit Bulldozern platt.
Die Flammen sind gelöscht, aber der Konflikt schwelt weiter. Während
der Mitte Februar seinen Häschern in die Hände gefallene PKK-Chef
Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali seinen Prozeß
erwartet, dreht der Staat die Repressionsspirale weiter. Erstmals seit
vielen Jahren waren jetzt Newroz-Feiern in den als besonders „neuralgisch“
geltenden Kurdenprovinzen Diyarbakir und Batman ganz verboten. Die sechs
unter Ausnahmezustand stehenden Südostprovinzen waren abgeriegelt,
Journalisten und ausländischen Beobachtern verweigerte die Polizei
das Bereisen der Region.
In der Provinz Mardin wurde eine sechsköpfige Beobachterdelegation
aus Deutschland festgenommen und offenbar später in die Westtürkei
abgeschoben. Auch bei Adana in der Südtürkei wurden neun deutsche
Beobachter festgesetzt. Sie sollten noch am gestrigen Montag dem Haftrichter
vorgeführt werden. Das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft
in Ankara bemühten sich am Montag noch um eine Aufklärung der
Vorgänge.
Allein aus Diyarbakir wurden am Sonntag rund 500 Festnahmen gemeldet.
725 Menschen nahm die Polizei nach eigenen Angaben in Istanbul in Gewahrsam.
Landesweit dürften weit über 2000 Menschen festgenommen worden
sein. In Istanbul lieferten sich kurdische Demonstranten Straßenschlachten
mit der Polizei. Dabei fielen auch Schüsse. Vier Menschen, darunter
ein zehnjähriger Junge, wurden verletzt.
Schon vor dem Newroz-Fest hatte die Polizei in vielen Landesteilen
kurdische Bürgerrechtler mit Razzien und Massenfestnahmen einzuschüchtern
versucht. Ins Visier der Sicherheitskräfte kam dabei vor allem die
kurdische Demokratie-Partei des Volkes (Hadep). Gegen sie läuft ein
Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht. Ihr Vorsitzender sitzt in
Haft, gegen die meisten führenden Funktionäre sind Strafverfahren
anhängig. Seit der Ergreifung Öcalans wurden bereits Tausende
Hadep-Mitglieder festgenommen. Am Samstag vor Newroz gab es in vielen Städten
eine weitere Welle von gegen die Hadep gerichteten Durchsuchungen und Festnahmen.
Generalstaatsanwalt Vural Savas konnte sich allerdings mit dem Antrag,
der Hadep im Vorgriff auf ein Verbot die Teilnahme an der für Mitte
April geplanten Parlamentswahl zu untersagen, nicht durchsetzen.
Man darf vermuten, daß dabei auch taktische Überlegungen
eine Rolle spielten: Stimmen für die Hadep fallen ohnehin praktisch
unter den Tisch, weil die Partei landesweit unmöglich die Zehnprozenthürde
überspringen kann. Verweigert man ihr dagegen die Teilnahme an der
Wahl, könnten die kurdischen Wähler wohl in der Mehrzahl zu den
islamischen Fundamentalisten überlaufen, was nicht erwünscht
sein dürfte.
Daß es letztlich zum Verbot der Hadep kommen wird, scheint jedoch
sicher. Eines haben die Politiker in Ankara mit ihrem harten Kurs bereits
erreicht: selbst gemäßigte kurdische Gruppen werden kriminalisiert,
in die Illegalität abgedrängt und damit radikalisiert. Davon
profitiert die PKK. Sie hat seit Öcalans Festnahme und dessen entwürdigender
Vorführung viel Solidarität erfahren. So knüpft nun die
im Exil arbeitende Sozialistische Partei Kurdistans, eine gemäßigte
Gruppe, die sich früher klar vom bewaffneten Kampf Öcalans distanzierte,
Kontakte zur PKK. Ministerpräsident Bülent Ecevit hoffte
zwar die Festnahme Öcalans, des „Staatsfeindes Nummer eins“, im Wahlkampf
als Trumpfkarte ausspielen zu können. Aber ob er dieses Erfolges froh
wird, bleibt angesichts der Welle von Terroranschlägen, die seit Öcalans
Ergreifung über das Land rollt, fraglich.
Überdies sieht sich Ecevit nun mit einem drohenden innenpolitischen
Chaos konfrontiert. Die „Enttäuschten“, eine zunächst belächelte
Gruppe von rund 100 Abgeordneten, die verärgert sind, weil sie von
ihren Parteien nicht wieder als Kandidaten aufgestellt wurden, könnten
dem Land eine handfeste Krise bescheren. Unterstützung fanden die
„Enttäuschten“ inzwischen bei der islamistischen Tugend-Partei, die
mit 144 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Parlament stellt. Gemeinsam
erzwangen sie eine erneute Einberufung des wegen des Wahlkampfs bereits
aufgelösten Parlaments.
Peinlicher noch für Ecevit: die rebellierenden Parlamentarier
setzten einen Mißtrauensantrag gegen Ecevit auf die Tagesordnung.
Für den Sturz der Regierung fand sich bei der Abstimmung am Montag
nachmittag zwar nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Aber schon droht
neues Ungemach.
Jetzt wollen die „Enttäuschten“ eine Verschiebung der für
den 18. April angesetzten Parlamentswahlen durchsetzen. Das ginge mit einfacher
Mehrheit. Ministerpräsident Ecevit, gerade auf Wahlkampftour in der
westtürkischen Provinz Izmir, brach seine Reise ab und eilte am Sonntag
abend nach Ankara zurück. „Überraschend und schlecht“ seien die
Nachrichten aus der Hauptstadt, seine Regierung sehe sich mit einem „zivilen
Putschversuch“ konfrontiert, erklärte Ecevit.
Am Montag nachmittag gewann der bedrängte Premier eine kurze Atempause:
das Parlamentspräsidium beschloß, gegen wütende Proteste
der Opposition, den Antrag auf Verschiebung des Wahltermins zunächst
dem zuständigen Verfassungsausschuß des Parlaments vorzulegen.
Damit gewann die Regierung wertvolle Zeit. Sie erwägt nun, das Verfassungsgericht
anzurufen, um den Wahltermin endgültig auf den 18. April festzuklopfen.
Aber neue Kontroversen kündigen sich bereits an. Während
man im Parlament über Mißtrauensantrag und Wahltermin stritt,
wurde bekannt, daß die Staatsanwaltschaft nun auch ein Verbotsverfahren
gegen die islamistische Tugend-Partei (FP) einleiten will. Die Ankläger
begründen das damit, die FP sei eine Nachfolgeorganisation der bereits
vergangenes Jahr vom Verfassungsgericht verbotenen Wohlfahrtspartei.
Auf die leichte Schulter, das zeigt seine eilige Rückkehr in die
Hauptstadt, kann Regierungschef Ecevit die Revolte im Parlament nicht nehmen.
Womöglich steht mehr auf dem Spiel als der Wahltermin. Vergangene
Woche schalteten sich bereits die Militärs, die eigentlichen Machthaber
der Türkei, in die Diskussion ein. Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu
höchstpersönlich erteilte in einem Interview mit der Zeitung
Hürriyet allen Überlegungen zu einer Verschiebung der Wahlen
eine kategorische Absage. Wer an dem Wahltermin rüttele, führe
das Land „auf den Weg ins Chaos“. Das aber, so der General, dürfe
man „nicht zulassen“. Vor dem Hintergrund von drei Staatsstreichen der
türkischen Militärs seit 1960 hat eine solche Warnung ihr eigenes
Gewicht.