Geiseln im Bus: Polizei räumt Fehler ein
Täter seit Wochen im Visier - „Es gibt günstigere Gelegenheiten
zur Festnahme“
Von KRISTINA JOHRDE und SASKIA TANTS
Am Tag nach dem Geiseldrama in einem Linienbus muß sich die Polizei
Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen. „Ungeschicktheit an der
Front“, kommentierte ein Ermittler den Zugriff seiner Kollegen. Die Beamten
der Bereitschaftspolizei hatten den gesuchten Kurden - wie gestern in einem
großen Teil der Auflage berichtet - im vollbesetzten Bus stellen
wollen. Die Folge: Sinik T. nahm zwei junge Männer und eine
14jährige als Geiseln. Einem der Opfer - Christian J. (20) - hielt
der militante Kurde fast eine Stunde lang ein Butterfly-Messer an die Kehle.Selbst
die Polizeiführung räumte Pannen ein. Polizeisprecher Reinhard
Fallak formulierte es gestern so: „Es gibt sicherlich günstigere Gelegenheiten,
jemanden festzunehmen.“
Tatsächlich soll die Festnahme des PKK-Anhängers zu diesem
Zeitpunkt alles andere als geplant gewesen sein. Polizei und Staatsanwaltschaft
war der Name des in St. Georg untergetauchten Kurden bekannt. Er
gehörte zu den Besetzern des Kurt-Schumacher-Hauses im Februar. Die
Behörden hatten ihn damals nach mehrstündigen Verhandlungen im
Austausch gegen den SPD-Kreisgeschäftsführer Dirk Sielmann mit
14 weiteren Komplizen ziehen lassen.
In den Wochen danach wurde der Geiselnehmer bei mehreren Kurden-Aktionen
erkannt und zum Schluß observiert. Aus taktischen und noch geheimgehaltenen
Gründen hatten die Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) abgewartet
- obwohl bereits seit Wochen ein Haftbefehl gegen den Asylbewerber Sinik
T. vorlag.
Davon ahnte der Festnahmetrupp der Bereitschaftspolizei offenbar nichts,
als er am Montag abend nach einer Kurden-Demonstration in der City die
Verfolgung des 18jährigen aufnahm. Kollegen hatten den gesuchten PKK-Anhänger
vom Fahndungsfoto in der Menge der Demonstranten erkannt. Zum weiteren
Geschehen und der Tatsache, daß die Beamten den Kurden ausgerechnet
in einem Linienbus festnehmen wollten, sagte Polizeisprecher Reinhard Fallak:
„Die Beamten hatten wohl nicht mit der Kurzschlußhandlung des Kurden
gerechnet.“
Sonderbar: Der Mann war doch als Geiselnehmer bekannt und wurde gerade
aus diesem Grund gesucht . . .
Zum Glück nahm alles doch noch ein gutes Ende. Wie berichtet,
hatte der Geiselnehmer seine Opfer nach einer Stunde der Angst freigelassen
und sich der Polizei ergeben. Jetzt sitzt Sinik T. im Untersuchungsgefängnis
am Holstenglacis. Ihm droht wegen Geiselnahme eine Freiheitsstrafe von
mindestens fünf Jahren. Oberstaatsanwalt Rüdiger Bagger:
„Wird er als Jugendlicher verurteilt, beträgt die Höchststrafe
zehn Jahre. Sieht ihn der Richter dagegen als Erwachsenen, drohen ihm bis
zu 15 Jahre Haft.“
Die Opfer des Geiselnehmers standen gestern immer noch unter Schock.
Der 20 Jahre alte Christian J. aus Eimsbüttel war nach Aussage seines
Stiefvaters kaum ansprechbar. Die Mutter des jungen Mannes, Ingeborg H.,
hatte während des Geiseldramas in unmittelbarer Nähe des Linienbusses
um das Leben ihres Sohnes gezittert.
„Hoffentlich passiert Christian nichts“, wiederholte sie wieder und
wieder. Sie mußte aus einiger Entfernung mit ansehen, wie ihrem Sohn
ein Messer an Brust und Kehle gehalten wurde.
Ironie des Geschehens: Während des Dramas im Linienbus lief im
ZDF der Film über die Geiselnahme von Gladbeck. Die Gangster hatten
damals nach einem mißglückten Banküberfall einen Linienbus
gekapert und zwei Geiseln erschossen.
Mit Sinik T. sitzen nun drei der Besetzer der SPD-Zentrale in Untersuchungshaft.
Dabei waren es neun Kurden, die vom Mobilen Einsatzkommando der Polizei
überwältigt worden waren. Es ergingen sechs Haftbefehle. Vier
der Geiselnehmer wurden gegen Auflagen von der Haft verschont.
Oberstaatsanwalt Rüdiger Bagger: „Die Ermittlungen gegen weitere
noch flüchtige Geiselnehmer dauern an.“