Müssen Völkerrechtler umschulen?
jW sprach mit dem Hamburger Wissenschaftler Reinhard Mutz
(Vizedirektor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
an der Universität Hamburg)
F: Mit dem angedrohten Krieg gegen Jugoslawien führt die NATO das
Völkerrecht ad absurdum. Können Völkerrechtler nun zur Umschulung
gehen?
Wenn man eine einzelne Bestimmung mißachtet, bleibt das Völkerrecht
als Ganzes noch bestehen. Aber Sie haben insofern recht, daß nicht
erst ein Einsatz militärischer Mittel im Kosovo durch die NATO völkerrechtswidrig
wäre. Völkerrechtswidrig war bereits die Androhung militärischer
Gewalt, wie sie in den letzten Monaten gebetsmühlenhaft stattgefunden
hat. Das ist unzweifelhaft, und ich kenne auch keinen Völkerrechtler,
der das in Frage stellt.
F: Ist dem Konflikt im Kosovo auch nur in Ansätzen mit Bomben beizukommen,
wie allerorten behauptet wird?
Das bezweifle ich doch sehr. Wenn es zutreffen würde, was in der
öffentlichen Meinungsbildung mittlerweile ein fest etabliertes Klischee
ist, wonach Milosevic jemand sei, der nur die Sprache der Gewalt verstehe,
dann hätte man doch im vergangenen dreiviertel Jahr Wirkung sehen
müssen. Die Sprache der Gewalt ist nun wirklich hinreichend zum Zuge
gekommen, und bisher gibt es nicht das erwartete Einlenken. Ich kann mir
schwer vorstellen, daß das Ernstmachen der Drohung, die wirklichen
Militäreinsätze mit Raketen und später mit Kampfbombern,
eine Änderung herbeiführen würde. Einfach deshalb nicht,
weil es nicht eine einzelne Person ist, die gefragt werden muß. Es
wird notorisch übersehen, daß es auch in Jugoslawien ein politisches
Kräftespektrum gibt, das sich aus verschiedenen Parteien, verschiedenen
politischen Kräften zusammensetzt. Es gibt im Fall des Kosovoproblems
und der Frage einer Zustimmung zur Entsendung von NATO-Streitkräften
in das Kosovo auf unbestimmte Zeit als Besatzungstruppen keine sichtbaren
Auffassungsunterschiede zwischen den relevanten Parteien und Gruppierungen
in Belgrad. Hinzu kommt die relativ geschlossene Meinung in der Bevölkerung.
F: Rußland spricht sich klar gegen etwaige NATO- Angriffe auf
Jugoslawien aus. Welche Konsequenzen auf internationaler Ebene hätte
ein Negieren der russischen Position?
Zwei Dinge werden in aller Regel durcheinandergebracht. Einerseits
der politische Teil des Rambouillet-Papiers, der zwischen den Mitgliedsstaaten
der Balkan-Kontaktgruppe einvernehmlich so entschieden ist. Dabei handelt
es sich um ein weitgehend faires Angebot an die beiden Konfliktparteien
im Kosovo, was den künftigen politischen Status angeht. In der Frage
des darin fixierten Autonomiestatus gibt es zwischen Serben und Albanern
auch einen Fast-Konsens. Von dieser Position der Balkan-Kontaktgruppe kann
man begründet behaupten, sie repräsentiere die sogenannte internationale
Gemeinschaft. Andererseits gibt es zu dem Papier zwei Anhänge, wovon
einer der umstrittene ist: Demnach soll die NATO die Umsetzung des Friedensplans
militärisch überwachen. Dies findet nicht die Zustimmung des
russischen Vertreters in der Kontaktgruppe. Hinter diesem Teil des Vertragsentwurfs
stehen ausschließlich die fünf westlichen Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe.
Durch die Ablehnung Moskaus hat dieser Vorschlag eine andere Qualität:
Er ist nicht getragen von der »internationalen Gemeinschaft«.
F: Mit welchen Reaktionen wäre seitens Rußlands also zu rechnen,
sollte diese Position mit NATO-Luftangriffen durchgesetzt werden?
Seriöserweise kann man schwer sagen, was vielleicht in vier Wochen
geschieht. Wir haben allerdings Präzedenzfälle: Auch das Bombardement
auf die bosnischen Serben im Herbst 1995 hat flammenden russischen Protest
ausgelöst, der aber verbal blieb. Moskau hat rhetorisch protestiert,
aber keine weitergehenden Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil, Rußland
hat sich wenige Wochen später auch unter NATO- Kommando an der Überwachungsstreitmacht
beteiligt. Mit Sicherheit sind auch jetzt politische Proteste zu erwarten,
weitergehende Reaktionen liegen aber im Ungewissen. Angedeutet worden ist,
das Verhältnis zur NATO zu überprüfen, also möglicherweise
auch den Grundlagenvertrag zwischen Rußland und der NATO vom Mai
1997 nicht weiter zu befolgen. Das wäre dann eine ernstere Krise im
Verhältnis des Westens zu Rußland.
F: Mit Blick auf die Türkei und die dortige Situation der kurdischen
Bevölkerung kann man doch vermuten, daß es der NATO nicht um
die »Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo«
geht, wie immer wieder betont wird.
Ich denke, man muß differenzieren. Auf der einen Seite gibt es
einen eindeutigen geographischen Unterschied. Das Kosovo liegt ein Stück
näher. Insbesondere die deutschsprachigen Länder sind durch die
Auswirkungen des Kosovoproblems in Form von Flüchtlingen in wesentlich
stärkerem Maße betroffen. Die Flüchtlingszahlen aus dem
Kosovo-Kriegsgebiet haben gegenwärtig ganz andere Größenordnungen
als aus Südostanatolien. Aber auf der anderen Seite ist man im Kosovokonflikt
ein erhebliches Stück weiter als etwa an vergleichbaren Schauplätzen,
wozu auch die Kurden-Problematik in der Türkei gehört. Die beiden
Kosovo-Konfliktparteien haben zusammengesessen und sich in wesentlichen
Teilen beträchtlich angenähert. Kann man sich vorstellen, daß
die türkische Regierung mit der PKK oder die israelische Regierung
mit der Hisbollah spricht? Das sind in der Wahrnehmung der jeweiligen Regierungen
terroristische Vereinigungen, so wie das Belgrad über die UCK auch
lange gesagt hat.
F: Nichtsdestotrotz wird Belgrad und nicht Ankara oder Tel Aviv von
der NATO bedroht. Gibt es im Falle Jugoslawien also andere Interessen als
die der Menschenrechtssicherung?
In einem Monat will die NATO ihr neues Strategie-Konzept verabschieden.
Es sind zwar noch nicht einmal Entwürfe bekannt, aber der Diskussion
darum kann man entnehmen, daß neben der Selbstverteidigung der Bündnisstaaten
als zweiter großer Aufgabenschwerpunkt die Krisenbewältigung
auch jenseits des NATO-Vertragsgebietes hinzukommt. Von seiten der NATO
gibt es ein Interesse zu demonstrieren, wie man sich das vorstellen könnte.
Zudem will man die Zustimmung der jeweiligen politischen Öffentlichkeiten
gewinnen.
Interview: Rüdiger Göbel