Ankara zwischen Zorn und Vorsicht
Die Türkei hilft den Kosovo-Flüchtlingen und unterstützt
die Nato-Angriffe. Ecevit sieht die Gefahr der Konfliktausdehnung
Kirklareli ist bereit. Die Baracken sind ausgebessert, zusätzliche
Zelte aufgebaut, die Wege gefegt. Kirklareli ist für den bevorstehenden
Ansturm gerüstet.
Das Lager liegt etwas östlich von Edirne, nahe an der bulgarischen
Grenze. Hier sollen die Flüchtlinge aus dem Kosovo versorgt werden,
die nicht mehr bei Verwandten oder Bekannten unterschlüpfen können.
Bislang sind aus dem Kosovo vor allem die Familien in die Türkei gekommen,
die verwandtschaftliche Beziehungen hierher haben. Jetzt rechnet die Regierung
in Ankara aber mit einem größeren Anteil von Leuten, die erst
einmal versorgt werden müssen. Montag abend trafen die ersten Busse
in Kirklareli ein, angesichts der Bilder aus dem Kosovo werden weitere
wohl nicht lange auf sich warten lassen.
Die türkische Öffentlichkeit nimmt großen Anteil an
der Tragödie auf dem Balkan. Insbesondere zu der muslimischen Bevölkerung
in Albanien, im Kosovo und in Makedonien, aber auch zu den Bosniaken bestehen
vielfältige Verbindungen. Innerhalb der Nato gehörte die türkische
Regierung zu den ersten, die auf eine Militäraktion gedrängt
haben. Die Türkei gehört wohl auch zu den wenigen Nato-Staaten,
die bereit wären, Bodentruppen für einen Einsatz im Kosovo zur
Verfügung zu stellen. Es gibt sogar Stimmen, notfalls allein zu intervenieren.
Offiziell überwiegen aber die nüchternen Stimmen. Ministerpräsident
Bülent Ecevit, Kemalist alter Schule und ohne jede Sentimentalität
für muslimische Glaubensbrüder, warnt eher vor den Gefahren.
Wird Makedonien und Albanien mit hineingezogen, ist es nicht mehr weit
bis zu einer Einmischung Bulgariens, Griechenlands und der Türkei.
Schon jetzt führt der Kosovo- Konflikt zu einer neuen Eskalation
zwischen Griechenland und der Türkei. Noch ist der Streit um die griechische
Unterstützung der PKK nicht abgeklungen, da sorgt Athen mit seiner
Parteinahme für Serbien für neuen Unmut. Letzte Woche soll in
der Ägäis die griechische Luftabwehr einen türkischen Jet
ins Zielvisier genommen haben. Hürriyet berichtet heute, die Türkei
hätte Griechenland mitgeteilt, wenn sich ein solcher Vorfall wiederhole,
würde das Feuer eröffnet.
Ecevit hat aber noch einen anderen Grund, sich nicht allzu laut zum
Paten der Albaner aufzuschwingen. Selbst in der amerikanischen Presse sind
in den letzten Wochen Artikel erschienen, in denen gefragt wird, was die
Situation im kurdischen Südosten der Türkei eigentlich von der
im Kosovo unterscheidet. Als ein US-Senator in einem Interview behauptete,
den Kurden in der Türkei gehe es doch wie den Albanern im Kosvo, war
die Empörung allgemein. Man könne doch nicht Äpfel
mit Birnen vergleichen. Im Gegensatz zur Türkei sei Jugoslawien ein
Staatenbund verschiedener Ethnien, von Tito in einer sorgfältigen
Balance gehalten, die erst durch Milosevic zerstört worden sei. Dagegen
habe es in der Türkei nie autonome Regionen gegeben. Jeder Einwohner
der Republik sei Türke mit gleichen Rechten und Pflichten.
Gerade jetzt, wo die Vorbereitungen auf den Prozeß gegen PKK-Chef
Abdullah Öcalan auf Hochtouren laufen und Ecevit mit einem Programm
„Aufbau Ost“ den Konflikt einzudämmen hofft, kommt der türkischen
Regierung diese Debatte höchst ungelegen. Da aber die Nato im
Falle eines Falles gerade von den Erfahrungen der türkischen Armee
im Kampf gegen eine Guerillatruppe in schwierigem Gelände zu profitieren
hofft, und, wenn es denn sein muß, wohl auch gerne türkische
Truppen im Kosovo vorschicken würde, werden Vergleiche dieser Art
auch nicht zu laut werden.
Jürgen Gottschlich, Istanbul