Ankaras Dilemma in der Kosovo-Frage
Wachsende Sorge vor einem Präzedenzfall
Die türkischen Politiker unterstützen die Luftangriffe der Nato gegen Jugoslawien. In der Regierung Ecevit macht sich aber zunehmend die Angst vor einem Präzedenzfall Kosovo bemerkbar, sollte der serbischen Provinz als Folge der Kampfhandlungen doch noch die Unabhängigkeit gewährt werden.
it. Istanbul, 2. April
Die humanitäre Tragödie in Kosovo und die anhaltende Flüchtlingswelle
haben in der türkischen Öffentlichkeit Bestürzung hervorgerufen.
«Gestern war es Bosnien, heute ist es Kosovo. Wie lange soll die
ethnische Säuberung denn noch hingenommen werden?» empörte
sich am Donnerstag das Massenblatt «Sabah». Seit Beginn des
Nato-Einsatzes gegen Jugoslawien sind über 4500 Kosovo-Albaner in
die Türkei geflüchtet. Es sind hauptsächlich Personen türkischen
Ursprungs, von denen rund 20 000 in Kosovo leben. Der Grossteil dieser
Flüchtlinge ist bei Verwandten untergekommen. Ankara bereitet sich
mittlerweile auf einen weit grösseren Strom muslimischer Flüchtlinge
vor. Betroffen vom Schicksal der vertriebenen Muslime aus Kosovo sind neben
der Öffentlichkeit auch die Politiker, die nach wie vor geschlossen
hinter den Luftangriffen der Nato gegen das «christlich-orthodoxe»
Jugoslawien stehen. Der türkische Aussenminister Cem begründete
unlängst die Hintergründe dieser geschlossenen Front damit, dass
die Türkei mit den Muslimen auf dem Balkan neben der gemeinsamen Religion
auch eine gemeinsame Geschichte teile.
Vorsichtige Balkan-Politik
Seit dem Beginn des Zerfalls des von Tito geschaffenen Jugoslawien
Ende der achtziger Jahre bemüht sich die türkische Regierung
intensiv um das Schicksal der Muslime auf dem Balkan. Ankara führt
dieses Interesse offiziell auf die gemeinsamen historischen und religiösen
Bindungen zurück, träumt aber heimlich auch davon, als «Schutzpatron
aller Muslime auf dem Balkan» seine Einflusssphäre bis hin zur
Adria auszudehnen. Von einer türkischen Einflusssphäre zwischen
China und der Adria hatte öffentlich als erster türkischer Politiker
der verstorbene Turgut Özal geträumt. Er forderte schon zu Beginn
der neunziger Jahre die Nato-Alliierten nachdrücklich auf, die Bosnien-
und die Kosovo-Frage gleichzeitig und notfalls mit Gewalt zu bereinigen.
Auch beim Nato-Angriff gegen Jugoslawien gehört die Türkei zu
den wenigen Nato-Staaten, die von Beginn der Operation an ihre Bereitschaft
erklärt hatte, auch Bodentruppen zur Verfügung zu stellen.
Dennoch ist die Balkan-Politik Ankaras heute nicht mehr von der Abenteuerlust
Özals bestimmt; sie ist vielmehr geprägt von einer besorgten
Vorsicht der Regierung Ecevit. Dass der amerikanische Präsident Clinton
am Dienstag die Souveränität Jugoslawiens über Kosovo in
Frage gestellt hatte, hat Ankara alarmiert. Eine Unabhängigkeit Kosovos
dürfte nämlich zum Präzedenzfall werden und in der unruhigen
Region des Balkans oder des Nahen Ostens auch andere ethnische Minderheiten
dazu verleiten, ihre Unabhängigkeit zu fordern. Das gilt etwa für
die nordirakischen Kurden, die wie die Kosovo-Albaner in dem von ihnen
beanspruchten Gebiet die überwältigende Bevölkerungsmehrheit
ausmachen. Ein unabhängiges «Kurdistan» direkt an der
südlichen Grenze der Türkei ist für die Regierung Ecevit
aber ein Albtraum. Ankara macht sich auch wegen der «neuen Interpretation»
des Völkerrechts Sorgen. Die Nato rechtfertigt ihren Militäreinsatz
gegen Jugoslawien mit dem Argument, der Schutz der Menschenrechte und der
Umgang mit Minoritäten seien längst nicht mehr die innere Angelegenheit
eines souveränen Staates. Die Türkei spricht ihrer kurdischen
Minorität aber jedes Recht auf kulturelle Eigenständigkeit ab
und rechtfertigt dies mit dem Argument, es handle sich beim Kurden-Problem
um eine innere Angelegenheit. Nervös weist die türkische Regierung
jede Parallele zwischen den Albanern in Kosovo und den Kurden in der Türkei
zurück.
Zwiespältige Presse
Der politische Zwiespalt widerspiegelt sich auch deutlich in der türkischen
Presse. Diplomaten melden sich beinah täglich zu Wort, um die Unterschiede
zwischen Kosovo und dem kurdischen Südosten der Türkei herauszustreichen.
Jugoslawien sei als ein Bundesstaat gegründet worden und habe den
Kosovo-Albanern Autonomie gewährt, kommentierte der ehemalige Diplomat
Coskun Kirca. Die Türkei hingegen sei seit ihrer Gründung «ethnisch
einheitlich», und sie habe den Kurden auch nie ein Recht auf Autonomie
eingeräumt. Der ehemalige Aussenminister Mümtaz Söysal sprach
am Mittwoch von den Erfahrungen, welche die türkische Armee im Kampf
gegen die «kurdischen Separatisten» in unwegsamen Bergregionen
gesammelt habe, und mutmasste, dass die Europäer im Falle eines Bodenkriegs
in Kosovo versucht sein könnten, die erprobten türkischen Soldaten
in Kosovo einzusetzen. Söysal riet der Regierung, nicht für ein
solches Europa, das einen Beitritt der Türkei zur EU wegen der Kurdenfrage
ausgeschlossen habe, die heissen Kastanien aus dem Feuer zu holen.