Völkerrechtssubjekt Mensch
...oder man stärkt und effektiviert das Völker(straf)recht
- eine mühsame, aber lohnende Aufgabe
Von Astrid Hölscher
Sprache war schon immer das billigste Mittel, um ein Problem zu verkleinern
oder einen Mißstand zu bemänteln. Das reicht vom harmlosen „Entsorgungspark“
bis zur „ethnischen Säuberung“, die Völkermord meint oder zumindest
Deportation, Vertreibung.
Im Fall Kosovo, so eine Bitte von der Hardthöhe, möchte man
doch vermeiden, von Bombardement zu reden, und viele scheuen den Begriff
Krieg, Angriffskrieg gar. Verteidigungsminister Rudolf Scharping gesteht
„große Probleme mit dem Wort in diesem Zusammenhang“ ein, und ein
konservativer Staatsrechtler wie Josef Isensee bevorzugt an dessen Statt
den Terminus der „humanitären Intervention“, der über die Art
des Eingreifens - militärisch oder nicht - die Auskunft verweigert.
Ist das Geschehen am Himmel über Kosovo erst so weit herunterdefiniert,
bleibt als einziger Makel die fehlende UN-Genehmigung, und der erscheint
alsbald nur noch als ein Schönheitsfehler.
Entfernen wir die sprachlichen Verkleidungen, lassen wir uns auf Tatsachen
ein. Nato und Bundeswehr führen Krieg auf dem Balkan; denn solcher
beginnt nicht erst mit dem Einsatz von Bodentruppen. Es ist ein Angriffskrieg;
Jugoslawien hat keine Grenzen verletzt, kein fremdes Territorium berührt,
alle Greueltaten fanden und finden auf heimischem Boden statt. Die Nato
und die beteiligten Staaten verstoßen folglich gegen Völkerrecht
und nationale Verfassungen, gegen die UN-Charta wie das Grundgesetz.
Eine solche Verletzung internationaler Regeln müßte eigentlich
einen weltweiten Aufschrei provozieren. Daß dieser ausbleibt, liegt
am Ziel dieses militärischen Eingriffs, das mitnichten völkerrechtswidrig
ist. Nicht um Eroberung geht es in Kosovo, sondern darum, den Respekt vor
den Menschenrechten wiederherzustellen. Die ehrenwerte Absicht wird auch
von jenen nicht bestritten, die daran zweifeln, daß Frieden durch
Gewalt zu schaffen und zu sichern sei. Und nur extrem Mißtrauische
argwöhnen eine zünftige Probe auf das neue Strategiekonzept der
Nato.
Seine innere Rechtfertigung bezieht der Bruch diverser Regeln des klassischen
Völkerrechts dadurch, daß er zukünftiges Völkerrecht
vorwegnimmt. Das bedeutet nicht, daß Militärbündnisse sich
in Zukunft an die Stelle der Vereinten Nationen setzen sollten. Aber der
Kosovo-Einsatz der Nato macht immerhin die Regelungs- und auch Glaubwürdigkeitslücken
im geltenden Recht bewußt - und eröffnet so im besten Fall eine
Chance, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verringern; sie
schließen zu wollen, wäre freilich realitätsfern.
Das Völkerrecht befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel,
der noch lange nicht abgeschlossen ist. In seiner hergebrachten „klassischen“
Form war es ausschließlich ein Recht der Staaten. Deren territoriale
Integrität und nationale Souveränität galt es zu schützen,
„Nichteinmischung“ war oberstes Gebot, solange keine (Staats-)Grenzen verletzt
wurden. Wie ein Land die eigenen Bürger be- oder mißhandelte,
war dessen eigene Angelegenheit, ging die Welt nichts an. Drastisch ausgedrückt,
aber keineswegs in unzulässiger Überspitzung: Hätte Hitler
„nur“ die deutschen Juden ermorden lassen, kein anderes Land hätte
sich zum Eingreifen genötigt sehen müssen.
Der einzelne Mensch, der Staatsbürger, wurde erst nach dem Zweiten
Weltkrieg, unter dem Eindruck des Holocaust, als Subjekt des Völkerrechts
entdeckt. Diese Entwicklung fand ihren ideellen Ausdruck in der Menschenrechtserklärung,
wurde in UN-Konventionen konkretisiert. Heute ist dies allgemeine
Überzeugung: Kein Regime darf das eigene Volk kujonieren, vor dem
Völkermord endet jede nationale Souveränität. Augenfällig
wurde das gewandelte internationale Rechtsbewußtsein bei der Festnahme
des Chilenen Pinochet in London: Ausgediente Diktatoren können sich
nicht länger sicher wähnen.
Bei aktuell regierenden Menschenrechtsverächtern sieht der Befund
indes düsterer aus. Das liegt nur zum Teil daran, daß in internationalen
Beziehungen allzuoft Macht vor Recht geht, daß Normen nicht durchgesetzt
werden. Es hapert auch daran, daß das formale Recht hinterherhinkt,
nicht Schritt hält mit dem Wandel des Bewußtseins. Wenn denn
Völkerrecht kein Selbstzweck ist, sondern seine Legitimation aus dem
Schutz der Menschenrechte herleitet, ist „altes Denken“ abzubauen, wie
es sich im weiterhin geltenden Vorrang des Staats manifestiert. Das Völkerrechtssubjekt
Mensch muß nicht nur ideell, sondern auch praktisch vorkommen. Ein
erster Schritt wäre, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag,
bisher Staaten vorbehalten, als Appellationsinstanz für Staatsbürger
und ethnische Gruppen zu öffnen. Als nächstes wäre der pränatale
Fehler des geplanten Strafgerichtshofs von Rom zu beseitigen, der, um tätig
zu werden, der Anerkennung des Staats bedarf, auf dessen Territorium Verbrechen
verübt wurden.
Niemand hat je behauptet, daß es einfach sei, festgeschriebene
Völkerrechtsregeln zu verbessern. Unmöglich ist es nicht. Und
der Kosovo-Einsatz der Nato zeigt die Alternative auf. Entweder er wird
zum Präzedenzfall, was hieße, morgen beschließt eine Militärmacht,
die Kurden oder Tschetschenen vom Joch zu befreien, übermorgen würde
den Basken oder Tibetern zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung verholfen.
Oder man stärkt und effektiviert das Völker(straf)recht - eine
mühsame, aber lohnende Aufgabe.