Eine Woche vor den Parlamentswahlen
Türkische Unternehmer stellen Forderungen an Politiker
Mächtiger Wirtschaftsverband will mehr Bürgerrechte und ein
Ende des Konfliktes in den Kurdengebieten
ky. Istanbul (Eigener Bericht) – Gut eine Woche vor den Parlamentswahlen
in der Türkei hat der einflußreiche Unternehmerverband des Landes
einen Katalog von Forderungen nach umfassenden politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Reformen vorgelegt. Das neue Parlament und die künftige
Regierung sollen sich nach den Vorstellungen des Vorstandes des Industriellenverbandes
TÜSIAD unter anderem vorrangig mit dem Ende des Konfliktes in den
Kurdengebieten im Südosten, mit der Verbesserung der Bürgerrechte
und der Schaffung größerer Transparenz im politischen System
befassen.
So fordert TÜSIAD eine Abänderung des berüchtigten Anti-Terror-Gesetzes
mit dem Ziel, die Meinungsfreiheit zu schützen. Der relativ vage gefaßte
Paragraph 8 dieses Gesetzes ahndet jede „Aufwiegelung“ des Volkes aus „rassischen,
religiösen oder nationalen Gründen“ mit Haftstrafen. Zahlreiche
Journalisten, Schriftsteller und Bürgerrechtler wurden bereits nach
diesem Gesetz von den Staatssicherheitsgerichten verurteilt. Auch diese
Gerichte sollen nach dem Willen der türkischen Unternehmer reformiert
werden. So soll ihr bislang umfassender Zuständigkeitsbereich entscheidend
beschnitten werden. Außerdem soll ihnen in Zukunft kein Militärrichter
mehr angehören. Mit dieser Forderung befindet sich TÜSIAD in
Übereinstimmung mit vielen Politikern der meisten im Parlament vertretenen
Parteien.
Großen Wert legen die Industriellen auf eine Reform des politischen
Systems. Sie sind seit langem über die Parteien- und Politikverdrossenheit
der türkischen Öffentlichkeit beunruhigt. Deshalb regen sie nun
an, die Immunität der Parlamentsabgeordneten zu beschränken und
gleichzeitig die innere Demokratie in den meist autoritär geführten
Parteien gesetzlich zu verankern. Darüberhinaus wünscht TÜSIAD
eine Stärkung lokaler Verwaltungen. Sie sollen das Recht erhalten,
eigenständig Abgaben zu erheben. Bislang erhalten Provinzen und Städte
Gelder von der Zentralregierung zugeteilt.
Vor drei Jahren legte der Verband erstmals einen aufsehenerregenden
Bericht über die Lage im Kriegsgebiet im Südosten des Landes
vor. Auch jetzt räumte TÜSIAD dieser Frage großen Raum
ein. So soll nach seinen Vorstellungen das neugewählte Parlament umgehend
ein „Reuegesetz“ verabschieden, das reumütigen Kämpfern der „Arbeiterpartei
Kurdistans“ (PKK) Straffreiheit zusichert.
Parallel dazu soll ein umfassendes Wirtschafts- und Sozialprogramm
für die Provinzen der Ost- und Südost-Türkei anlaufen. Dafür
müssen nach Überzeugung des Unternehmerverbandes mindestens eine
Milliarde Euro (knapp zwei Milliarden Mark) in diese Regionen fließen.