Kandidaten-Kür ist Chefsache Im Blickpunkt: Wahlen in der Türkei
Von Gerd Höhler (Ankara)
Rund 11 000 Kandidaten bewerben sich bei der türkischen Parlamentswahl
am kommenden Sonntag um die 550 Sitze in der Großen Nationalversammlung.
Wer antreten darf, bestimmen die Parteiführer praktisch im Alleingang.
Wie die Aspiranten für das nächste Parlament ausgewählt
wurden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Kultur in der
Türkei. Nur bei der „Partei für Freiheit und Solidarität“
(ODP) ging es demokratisch zu: In freier Abstimmung entschieden die Parteimitglieder
auf regionaler Ebene über die Aufstellung der Kandidatenlisten. Doch
dies dürfte eine vergebliche Übung gewesen sein. Daß die
ODP die Zehnprozenthürde nimmt, was Voraussetzung für ihren Einzug
in das Parlament wäre, gilt als ausgeschlossen.
Die anderen Parteien überließen die Auswahl der Kandidaten
ihren Vorsitzenden. Zwar veranstalteten einige, wie die konservative Partei
des Wahren Weges (DYP) und die Mutterlandspartei (Anap) Abstimmungen, mit
denen die Parteibasis Kandidaten nominieren konnte. Doch das waren nur
unverbindliche Empfehlungen. So plazierte Anap-Chef und Ex-Premier Mesut
Yilmaz seine beiden engsten Berater Cavit Kavak und Günes Taner ganz
oben auf den Kandidatenlisten, obwohl beide bei der Basis durchgefallen
waren. Einen aussichtsreichen Listenplatz bekam auch Yildiz Batirbaygil.
Er ist der Zahnarzt von Yilmaz-Ehefrau Berna.
Auch die frühere Ministerpräsidentin und DYP-Vorsitzende
Tansu Ciller ließ sich von der Parteibasis nicht reinreden. Bei der
Parlamentswahl im Dezember 1995 hatte sie hochrangige Polizei- und Armeeoffiziere
in die Nationalversammlung gehievt, um sich bei den Militärs und beim
Sicherheitsapparat abzusichern. Jetzt protegiert die mit schwerwiegenden
Korruptionsvorwürfen konfrontierte Politikerin ihre Anwälte:
Sevgi Esen, Atilla Özer und Ömer Asim Livanelioglu bekamen aussichtsreiche
Listenplätze.
Kontroversen gab es bei der Kandidatenkür in der islamistischen
Tugend-Partei (FP). Hinter den Kulissen zog Necmettin Erbakan die Fäden,
der 1998 vom türkischen Verfassungsgericht zu fünfjähriger
politischer Enthaltsamkeit verurteilte Chef der zwangsaufgelösten
religiösen Wohlfahrtspartei. Als deren Nachfolgeorganisation gilt
die FP. Erbakans Anspruch, die Regie in der FP zu führen, hat der
Partei, die im scheidenden Parlament die stärkste Fraktion stellt,
eine schwere Zerreißprobe beschert. Die Flügelkämpfe zwischen
den Erbakan-Gefolgsleuten und den gemäßigteren Kräften
drohen die Hoffnung der FP zu vereiteln, am Sonntag wieder stärkste
Partei zu werden.
Die Rolle des Wahlsiegers könnte den Islamisten vom amtierenden
Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und seiner Partei der Demokratischen
Linken (DSP) streitig gemacht werden. Ecevit sonnt sich vor allem im Erfolg
der Festnahme des PKK-Chefs Abdullah Öcalan, des türkischen „Staatsfeindes
Nummer 1“. Der 73jährige Ecevit gilt überdies als absolut integer.
Mit Korruptionsvorwürfen ist er nie konfrontiert gewesen. Kein anderer
türkischer Spitzenpolitiker kann das von sich sagen. Mit der innerparteilichen
Demokratie hapert es allerdings auch in Ecevits DSP. Die Kandidatenliste
ließ der Premier von seiner Frau Rahsan aufstellen. Zwölf Minuten
benötigte Ecevit, um die Namen der Auserwählten vor den Parteigremien
aufzusagen. Widerspruch gab es nicht, die Listen wurden genehmigt.