37 Millionen Bürger bestimmen ein neues Parlament
Den Türken wird die Wahl zur Qual
Mit einer Unzahl von Skandalen und Intrigen haben die meisten Parteiführer
jeglichen Kredit bei der Bevölkerung verspielt
Von Wolfgang Koydl
Istanbul, 14. April – Eigentlich scheint nur Ex-Ministerpräsident
Mesut Yilmaz die Hände in den Schoß zu legen. Alle anderen Spitzenkandidaten
der türkischen Parlaments- und Kommunalwahlen jedenfalls recken auf
ihren Plakaten den rechten oder den linken Arm steil nach oben, als gelte
es, das Blaue vom Himmel nicht nur zu versprechen, sondern mit zupackendem
Griff auch gleich herunterzuholen. Indes: Die große Pose beeindruckt
kaum einen der 37 Millionen Wahlberechtigten. Politik- und Parteienverdrossenheit
haben ein sogar für türkische Verhältnisse erstaunliches
Ausmaß erreicht. Am Wahltag, dem kommenden Sonntag, dürfte sich
dies in ungültigen Stimmzetteln niederschlagen. Es ist die einzig
mögliche Form des Protestes für den Wähler, da in der Türkei
Wahlpflicht herrscht.
Die Flut an Bannern, Postern und Wahlkampfbussen kann nicht darüber
hinwegtäuschen, daß zwischen Edirne und Erzurum eine der langweiligsten
Kampagnen der jüngeren Geschichte zuende geht. Selbst Spitzenpolitiker
wie Yilmaz oder die frühere Regierungschefin Tansu Ciller mußten
Großkundgebungen im letzten Moment platzen lassen. Entweder waren
überhaupt nicht genügend Interessierte erschienen, oder das Publikum
verließ den Schauplatz, sobald der zur Unterstützung der jeweiligen
Partei auftretende Pop-Star sein Gratiskonzert beendet hatte.
In der Türkei ist es verboten, Wählerumfragen zu veröffentlichen.
Dennoch kristallisiert sich heraus, daß das nächste Parlament
so zersplittert sein wird wie das alte. Die bisherige Volksversammlung
war nach dreieinhalb Jahren vorzeitig aufgelöst worden, weil eine
Regierungsbildung unmögliche geworden war. Seit Dezember 1995 hatte
das Land vier Regierungen erlebt, die durchschnittlich acht Monate im Amt
waren. Fast die Hälfte der Abgeordneten wechselte mindestens einmal
die Partei.
An diesen Zuständen dürfte sich auch nach dem 18. April nichts
ändern. Die meisten politischen Beobachter gehen davon aus, daß
bis zu sechs Parteien den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde
schaffen werden. Es ist sogar denkbar, daß keine von ihnen mehr als
20 Prozent der Stimmen erreicht, was Koalitionsbildungen zusätzlich
erschweren würde. Die Zusammenarbeit ist ohnehin problematisch, weil
die Führer der beiden linken und der beiden bürgerlichen Parteien
einander nicht ausstehen können. Außerdem wird auf Wunsch des
Militärs die islamistische "Fazilet"-Partei von der Regierungsbildung
ausgeschlossen, womit eine der stärksten politischen Kräfte von
vornherein entfällt.
Zum Favoriten der Wahl ist überraschend der gegenwärtige
Ministerpräsident Bülent Ecevit geworden. Dem 74jährigen
Alt-Politiker und seiner autoritär geführten "Demokratischen
Linkspartei" (DSP) traut man zu, daß sie sogar auf mehr als 20 Prozent
kommt und die Islamisten auf Rang zwei verweisen. Yilmaz' konservative
"Mutterlandspartei" (ANAP) und Tansu Cillers "Partei des Rechten Weges"
(DYP) streiten demnach um Platz drei. Knapp an der Zehn-Prozent-Hürde
liegen Deniz Baykals sozialdemokratisch genannte "Republikanische Volkspartei"
(CHP) und die militanten Nationalisten von der "Nationalen Bewegungspartei"
(MHP).
Ecevit, der schon vor knapp einem Vierteljahrhundert dreimal Regierungschef
war, wird zugute gehalten, daß er als einziger Spitzenpolitiker als
unbestechlich und sauber gilt. Alle anderen Parteien und ihre Führer
waren in den letzten Jahren in eine Vielzahl von Skandalen verstrickt gewesen,
von denen sie einander je nach Opportunität wieder freiwuschen. Die
Wähler sahen es mit Grausen und wandten sich ab.
Das größte Wahlgeschenk erhielt Ecevit frei Haus aus Kenia
geliefert: Die Festnahme des Chefs der separatistischen "Arbeiterpartei
Kurdistans" (PKK), Abdullah "Apo" Öcalan, in Nairobi heftete er sich
und seiner Minderheitsregierung ans Banner. Für die Masse der türkischen
Wähler war es die zweite historische Heldentat des schnurrbärtigen
nationalen Sozialisten, nachdem er 1974 die Invasion Cyperns befohlen hatte.
Seitdem nennen ihn gläubige Anhänger nicht mehr nur den "Helden
von Cypern" sondern "Kibris ve Kenya Fatihi" – "Eroberer von Cypern und
Kenia".
Wichtiger als die Parlamentswahl sind den Türken indes die zeitgleich
stattfindenden Kommunalwahlen. Dabei ist es alles andere als sicher, daß
die Islamisten auch dieses Mal wieder die Bürgermeister von Ankara
und Istanbul stellen werden, vor allem nachdem der populäre Oberbürgermeister
der Bosporus-Metropole, Recep Tayyip Erdogan, unter einem Vorwand seines
Amtes enthoben und ins Gefängnis geworfen worden ist.
Im Südosten des Landes dürfte die pro-kurdische "Demokratiepartei
des Volkes" (HADEP) bei den Kommunalwahlen gut abschneiden. Obwohl Generalstaatsanwalt
Vural Savas ein Verbotsverfahren eingeleitet hat, gilt es als sicher, daß
sie den nächsten Bürgermeister von Diyarbakir, der Hauptstadt
der Region, stellen wird. Im Amt dürfte er indes nicht lange bleiben.
Wenn er nicht gleich vom Gouverneur der Provinz wieder abgesetzt wird,
würde er seinen Posten mit dem Verbot der Partei verlieren.