Von Ralph Boulton
Ankara. Der Erfolg der Nationalisten bei der türkischen Parlamentswahl
macht eine Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan nach Ansicht von
Diplomaten sehr viel wahrscheinlicher. Sollte Öcalan nämlich
im Sommer wegen Hochverrats zum Tode verurteilt werden, müßte
das Parlament über die Ausführung der Strafe entscheiden. Und
es sei davon auszugehen, daß das neue, nationalistisch geprägte
Parlament Öcalan nicht begnadigen werde.
Immerhin sei es auch die euphorische Stimmung nach der Verhaftung Öcalans
gewesen, die der nationalistischen Partei MHP am Sonntag zum zweiten Platz
bei der Wahl verholfen habe. Stimmt das Parlament der Hinrichtung zu, kann
nur noch Präsident Süleyman Demirel Öcalan begnadigen -
wegen Krankheit, Gebrechlichkeit oder Senilität. Westeuropäische
Proteste gegen eine Hinrichtung würden die Entschlossenheit des Parlaments
vermutlich nur stärken.
Die Enttäuschung über Europa ist einer der Faktoren, der
den Nationalisten zu Wählern verhilft. Viele Türken sind gekränkt,
wie die Europäische Union ihr Land 1997 von der Liste der Beitrittskandidaten
strich. Zudem wird die EU als Fürsprecher der PKK betrachtet, weil
sie die Garantie von Minderheitenrechten durch die Türkei einfordert.
In der Türkei bezweifelt kaum jemand, daß Öcalan schuldig
gesprochen werden wird. Die Türkei macht ihren Staatsfeind Nummer
Eins für den Tod von fast 30 000 Menschen im 14 Jahre dauernden Terror
der PKK im Südosten des Landes verantwortlich.
Frankfurter Neue Presse , 22.4.99