F: In der Türkei wurde ein neues Parlament gewählt. Wie funktioniert
das Wahlsystem?
1950 fanden in der Türkei die ersten sogenannten freien Wahlen
statt. Jede Regierung, die seitdem an die Macht kam, hat das Wahlsystem
so verändert, wie sie es gerade brauchte. Beispielsweise bei den zweiten
Wahlen 1954 bekam die konservative ANAP-Partei 57 Prozent der Wählerstimmen.
Von insgesamt 542 Sitzen im Parlament aber erhielt sie 505. Die Republikanische
Volkspartei, CHP, bekam 35 Prozent der Stimmen und nur 31 Abgeordnete.
Seit 1983 gibt es in der Türkei ein Verhältniswahlrecht, ähnlich
wie in der BRD. Mit einem Unterschied: Hier gibt es eine Fünf-Prozent-Klausel,
in der Türkei eine Zehn-Prozent-Hürde. Damit sollen kleinere
Parteien, vor allem systemkritische und pro-kurdische, vom Parlament ausgeschlossen
werden. Alle Stimmen, die diese Parteien erhalten, fallen automatisch der
Partei mit den meisten Stimmen zu. Mit etwa 33 Prozent Wählerstimmen
ist es theoretisch möglich, die absolute Mehrheit im Parlament zu
bekommen. In den letzten 75 Jahren hatte die Türkei 56 Regierungen,
jetzt wird die 57. gebildet werden. Rein statistisch ergibt das eine Amtszeit
von 1,3 Jahren. Aber allein in den letzten zehn Jahren wurde zehnmal gewählt.
F: Haben die Kosten des Krieges gegen die Kurden eine Rolle bei den
Wahlen gespielt?
Der Krieg kostet nach offiziellen Angaben etwa acht bis zehn Milliarden
DM im Jahr. 80 Prozent des Drogenhandels im Westen laufen über die
Türkei. Und mit diesem Geld finanziert der türkische Staat den
Krieg. Die Türkei ist das einzige Land, das offiziell mit Mafiageldern
rechnet. Es gibt Verbindungen zwischen dem Staatsapparat, der Mafia, den
Konterguerillabanden und den Spezialeinheiten. Hinter all dem steckt die
faschistische Partei der Nationalen Bewegung, MHP. Und die wird als zweitstärkste
Partei in das Parlament einziehen.
F: Was bedeutet das für die Regierungsbildung?
Die Demokratische Linkspartei von Bülent Ecevit wurde stärkste
Partei, was sicher mit der Verhaftung Abdullah Öcalans zusammenhängt.
Das heißt nicht zwangsläufig, daß die DSP auch die Regierung
stellen wird. Daß Ecevit mit der MHP koaliert, halte ich für
unwahrscheinlich. Außerdem kann er eine Koalition mit der ANAP und
der Partei des Rechten Weges von Tansu Ciller eingehen. Natürlich
besteht auch die Möglichkeit, daß alle drei Parteien die neue
Regierung stellen werden. Aber wie auch immer: Die MHP-Fraktion wird aus
etwa 130 Abgeordneten bestehen. Und damit läßt sich schon eine
Menge ausrichten.
F: Wie erklärt sich der Wahlerfolg der türkischen Faschisten?
Dieses Wahlergebnis ist das Produkt der offiziellen Politik des türkischen
Staates seit dem Putsch 1980. Die Kriegshysterie der türkischen Regierung
fördert den Nationalismus. Die Rechte in der Türkei hat auf der
politischen und kulturellen Ebene die Hegemonie. Nach fast zwanzig Jahren
zeigt das einfach seine Wirkung. Außerdem dürfen inzwischen
auch diejenigen wählen, die zum Zeitpunkt des Putsches Kinder oder
Jugendliche waren. Deren politische Sozialisation fand unter diesen Bedingungen
statt. Schon bei den Wahlen 1995 wurde erwartet, daß die MHP einen
Stimmenanteil von 15 bis 17 Prozent bekommt. Alle waren erstaunt, daß
die MHP mit 8,2 Prozent nicht ins Parlament gekommen ist. Und dieses Mal
wurde eben gleich das Original gewählt und nicht die Kopie, wie beim
letzten Mal.
F: MHP als zweitstärkste Partei. Bedeutet das offenen Faschismus
in der Türkei?
Hinter den Kulissen regiert die MHP schon lange in der Türkei.
Vielleicht wird jetzt die Welt endlich begreifen, wer in der Türkei
tatsächlich regiert. In Kurdistan gibt es seit 15 Jahren Krieg. Oppositionelle
werden verfolgt, verhaftet, gefoltert und »verschwinden«, werden
extralegal hingerichtet. Mitglieder der MHP werden in den Kasernen militärisch
ausgebildet und in den Spezialeinheiten im Kampf gegen das kurdische Volk
eingesetzt. All die dreckigen Geschäfte besorgt die MHP. Natürlich
werden sich die Repressionen weiter verschärfen. Vor allem wird das
Wahlergebnis Konsequenzen für Abdullah Öcalan haben. Es ist damit
zu rechnen, daß er zum Tode verurteilt wird. Bis jetzt gab es eine
Hoffnung, daß dieses Urteil nicht vollstreckt werden würde.
Aber bei diesen Mehrheitsverhältnissen halte ich das für ausgeschlossen.
F: Agiert die MHP auch in Deutschland?
In den letzten Jahren wurde es hierzulande etwas ruhiger um die MHP.
Das heißt nicht, daß sie nicht gearbeitet hat: Immer wieder
wurden Überfälle (Foto: Demo im November 1998 in Berlin) türkischer
Faschisten auf Kurden und kurdische Vereine in Deutschland bekannt. Und
einmal im Jahr halten sie hier auch ihren Kongreß ab. Daran nehmen
bis zu 15 000 Menschen teil. Wenn die Türkei Länderspiele gewinnt,
dann gibt es in größeren Städten hupende Autokonvois, in
denen grölende Nationalisten sitzen, die die türkische Fahne
aus dem Fenster schwenken. Aber mit dem Erstarken der faschistischen Bewegung
in der Türkei müssen wir damit rechnen, daß sie auch hier
verstärkt auftreten werden. Ein klassisches Arbeitsfeld der türkischen
Faschisten sind die Ausländerbeiräte. Die sind zu 80 Prozent
von ihnen besetzt. Und so machen sie die MHP bei den Politikern in der
Bundesrepublik salonfähig. »Die sind ja demokratisch gewählt«,
heißt es dann als Begründung für Kontakte, auch von SPDlern
oder Grünen.
F: Wie ist es möglich, daß türkische Faschisten so
stark in den Ausländerbeiräten vertreten sind?
Die sind eben am besten organisiert. Die islamistischen und faschistischen
Gruppierungen verfügen über mehr als 1 000 Vereine in der gesamten
BRD. Hinzu kommen Hunderte von Moscheen. Das ist eine enorme Kraft. Und
wie gesagt, die deutschen Politiker arbeiten mit ihnen zusammen. Die MHP
tauchte bis 1997 noch nicht einmal im Verfassungsschutzbericht auf. Obwohl
bekannt ist, daß sowohl Morde als auch Anschläge auf ihr Konto
gehen. Die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke stellte damals eine Anfrage im Bundestag.
Seitdem tauchen sie in zwei Sätzen am Rande auf.
jW, 22.4.99 Interview: Birgit Gärtner