«Das Recht auf einen eigenen Staat»
Interview mit dem Völkerrechtler Norman Paech zu Befreiungsbewegungen und Völkerrecht
Für die einen sind sie Terroristen, für die anderen Befreiungsbewegungen - zum Beispiel die Befreiungsbewegung des Kosovo UCK oder die kurdische PKK. Wie werden solche Organisationen völkerrechtlich beurteilt?
Norman Paech: Das ist die verkehrte Welt der Nato. Die kosovo-albanische UCK ist sozusagen die Bodentruppe der Nato, während die kurdische PKK gegen einen Nato-Staat, die Türkei, kämpft. Eine verkehrte Welt auch, weil die ursprüngliche Forderung der Kosovo-Albaner nach Autonomie erweitert worden ist auf einen separaten Staat, während die Kurden ihre Forderung nach einem eigenen Staat jetzt auf Autonomie reduziert haben.
Diese Bewegungen führen Krieg gegen Staaten, die sie als Unterdrücker ansehen. Wann ist eine ethnische Minderheit unterdrückt? Wann ist der bewaffnete Kampf gerechtfertigt?
Paech: Die UNO-Resolution 1514 von 1960 hält fest:
«Alle Völker haben das Selbstbestimmungsrecht. Kraft dieses
Rechts steht es ihnen frei, ihren politischen Status zu bestimmen und ihre
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu betreiben.»
Ursprünglich galt dies für Kolonialvölker und umfasste auch
das Recht auf einen eigenen Staat. Mit dem Ende der Dekolonisierung reduzierte
sich dieses Recht auf Autonomie. Im Kosovo-Konflikt hätte man bei
den Verhandlungen Autonomie fordern müssen. Erst wenn diese nicht
gewährt worden wäre, hätten rechtlich weitere Massnahmen
erfolgen dürfen. Das Völkerrecht sagt: Sieht ein Volk nicht die
Chance, seine Autonomie zu erlangen, dann kann es Sezession fordern. Es
ist ihm nicht mehr zumutbar, in diesem Staatenverbund zu leben, der ihm
Selbstbestimmung verweigert. Das trifft auf Kurdistan zu. Nach 15
Jahren Krieg, drei Millionen Vertriebenen, 3000 zerstörten Dörfern
und 30 000 Toten sowie einer Auslöschung der kurdischen Identität
ist hier der Begriff «Völkermord» angebracht.
Welche anderen Möglichkeiten bleiben unterdrückten Völkern, um ihre Rechte zu erlangen?
Paech: Der gegenwärtige Stand des Völkerrechts gilt seit 1974: Damals wurde der PLO als Vertreterin des palästinensischen Volkes ein Status bei der UNO eingeräumt. Ebenso wurde das Recht des bewaffneten Kampfes gegen einen unterdrückenden Staat verankert. Befreiungsorganisationen wie der ANC in Südafrika, die MPLA in Angola, die Frelimo in Mosambik wurden von der UNO auch anerkannt.
Dem Kurdenführer Abdullah Öcalan wird in der Türkei als «Terrorist» der Prozess gemacht. Andere «Terroristen» wie Arafat oder Mandela sind heute Staatschefs. Beruht die Einschätzung nur auf dem Erfolg?
Paech: Das ist leider so. Tatsächlich war Arafat in den 70er Jahren der meistgesuchte Terrorist. Heute ist er Staatsmann. Das ist Folge des Erfolges und nicht der völkerrechtlichen Situation.
Wann ist eine Unterstützung von Befreiungsbewegungen gerechtfertigt, ohne dass es sich um eine «Einmischung in innere Angelegenheiten» handelt?
Paech: Ein Zusatzprotokoll von 1977 zu den Genfer Konventionen von 1949 sagt eindeutig: Ein Befreiungskampf ist eine internationale Auseinandersetzung und kein Bürgerkrieg. Deshalb dürfen fremde Staaten Befreiungsbewegungen, die berechtigt sind zum bewaffneten Kampf, auch militärisch unterstützen. Das war Praxis bei einigen afrikanischen Befreiungsbewegungen.
Waffenlieferungen als Unterstützung zur Selbstverteidigung? Werden damit nicht Konflikte angeheizt?
Paech: Sicher werden die Konflikte angeheizt. Aber kann ein unterdrücktes Volk seine Freiheit nicht alleine erringen und räumt der beherrschende Staat das Selbstbestimmungsrecht nicht ein - dann hat die Befreiungsbewegung ein Recht auf ausländische Hilfe.
Braucht es neue Regelungen im internationalen Recht, um unterdrückten Völkern zu helfen?
Paech: Ja, es braucht klarere Aussagen zum Selbstbestimmungsrecht. Im allgemeinen wird abgeleitet, dass sich das Selbstbestimmungsrecht auf Autonomie beschränkt. Sezession ist nur dann berechtigt, wenn es einem Volk nicht mehr zumutbar ist, in diesem Staat zu verbleiben. Wir brauchen nun wieder eine klare Besinnung auf die Lehre des Völkerrechts und die Praxis der Staaten. Besonders jetzt, nachdem die Nato ohne UNO-Mandat eingreift und gegen das Gewaltverbot verstösst. Die Nato nimmt sich das Recht, nicht nur entsprechend ihrem Statut ihr Territorium zu verteidigen, sondern eine allgemeine Krisenregelung durchzuführen. Das ist eine Niederlage sowohl der UNO als auch des Völkerrechts.
Interview: Eleonore Baumberger Norman Paech ist Professor für öffentliches
Recht an der Universität Hamburg. Morgen Donnerstag, 29. April, 20
Uhr, spricht er auf Einladung verschiedener Hilfsorganisationen im Kongresshaus
Schützengarten über «Völkerrecht und Befreiungsbewegung».