Selbstsichere Nationalisten in der Türkei
Ankara vor einer aussenpolitischen Wende?
Der Triumph der türkischen Nationalisten bei den Wahlen von Mitte April widerspiegelt sich in der Zusammensetzung des neuen Parlaments. Erstmals in der Geschichte der Republik wird die Mehrheit der Sitze vom Block der Nationalisten besetzt; alleine die Rechtsextremisten verfügen über 130 Mandate. Liberale Kreise reagieren beklommen und sprechen vom jugoslawischen Virus, der die Türkei befallen habe.
it. Istanbul, 28. April
Über eine Woche nach den Parlamentswahlen beginnen die Türken
zu realisieren, dass die Wahlresultate die Politik ihres Landes vermutlich
stark verändern werden. Das Spektrum rechts der Mitte, das in den
letzten 40 Jahren fast ununterbrochen die Regierungen gebildet hatte, ist
zusammengebrochen. Die Mutterlandspartei (Anap) unter der Führung
von Mesut Yilmaz sowie die Partei des Rechten Weges (DYP) von Tansu Ciller
schrumpften auf einen Wähleranteil von 25 Prozent. Die islamistische
Tugendpartei musste wegen der Intervention der Armeeführung sowie
der beispiellosen juristischen Verfolgung ihrer Kader einen Verlust von
fast einem Drittel ihrer Wähler hinnehmen, womit dem politischen Islam
in der Türkei vorerst Einhalt geboten wäre. Die Linke, traditionell
durch die Republikanische Volkspartei repräsentiert, wird in diesem
Parlament nicht vertreten sein. Der Sieg gehört ganz den Nationalisten.
Überwältigender Rechtsrutsch
Wie überwältigend der Rechtsrutsch in der Türkei war,
zeigt sich an der Sitzverteilung im 550 Sitze zählenden Parlament.
Wurde die rechtsextreme Partei der Nationalen Bewegung (MHP) in der letzten
Legislaturperiode nur gerade durch zwei Parlamentarier vertreten, so verfügt
sie heute über 130 Abgeordnete. Die Partei der Demokratischen Linken
(DSP) von Bülent Ecevit hat mit 136 Sitzen ihre Macht fast verdreifacht.
Die DSP wird trotz ihrem Namen längst nicht mehr der türkischen
Linken, sondern der nationalistischen Bewegung zugerechnet. Überraschende
Erfolge verbuchten schliesslich auch jene Nationalisten, die in den letzten
Jahren aus machtpolitischen Überlegungen sich den konservativen Parteien
DYP und Anap oder der islamistischen Fazilet angeschlossen hatten. Eine
Opposition, die gegen den mächtigen Block der Nationalisten antreten
könnte, gibt es im neuen Parlament nicht.
Die Türkei hat sich verändert, lautet das beklemmende Fazit
in liberalen Kreisen. Anzeichen für den Rechtsrutsch gab es zwar schon
lange. Seit Mitte der neunziger Jahre ist die MHP die dominierende Kraft
in den Universitäten. MHP- Militante, auch Idealisten genannt, greifen
im Campus regelmässig linke Kommilitonen an oder schliessen kurdische
Studenten vom Unterricht aus, ohne dass dies verhindert würde. In
Fussballstadien feiern die Fans den Sieg ihrer Mannschaften oft mit nationalistischen
Liedern und bilden mit den Fingern den Kopf eines Wolfes - das Siegessymbol
der MHP. Nach der Verhaftung des Kurdenführers Öcalan letzten
November in Rom zogen jugendliche Nationalisten durch die Strassen, setzten
italienische Fahnen in Brand und schlugen Kurden zusammen.
«Wir glaubten, diese Aktionen seien von staatlichen Stellen organisiert
worden und darum auch kontrollierbar», sagt im Gespräch der
Vorsitzende der Partei für Frieden und Solidarität (ÖDP),
Ufuk Uras. Diese Wahlen hätten aber gezeigt, dass die Bereitschaft
zu Gewalt im Namen des Staates einer Grundstimmung in der Bevölkerung
entspreche. Die Türkei sei vom jugoslawischen Virus befallen, sagt
er beunruhigt. Die ÖDP, ein Sammelbecken der türkischen linken
und liberalen Intellektuellen, hat als einzige türkische Partei während
ihrer Wahlkampagne für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage
plädiert. Sie erhielt gerade 0,8 Prozent der Stimmen.
Böse Erinnerungen
Noch ist unklar, ob die MHP und die DSP tatsächlich eine Regierungskoalition
bilden werden. Die zwei Parteien haben vieles gemein. Beide haben nie den
Begriff Kurdenfrage benützt und sind entschlossen, jedes Aufbegehren
der kurdischen Bevölkerung in der Türkei im Keim zu ersticken.
Sie stimmen ferner darin überein, dass Ankara weder gegenüber
Griechenland noch in der Zypern-Frage Kompromisse einzugehen habe. Am meisten
kennzeichnet sie aber die Überzeugung, wonach die Türkei eine
Regionalmacht sei, welche im Nahen Osten und in Zentralasien, auf dem Kaukasus
wie auf dem Balkan vitale Interessen zu verteidigen habe.
Die Vergangenheit allerdings trennt die zwei Parteien. Die Erinnerung
an die MHP der siebziger Jahre lässt ältere DSP-Mitglieder immer
noch schaudern. Mit dem Aufruf, das Türkentum gegen den Kommunismus
zu retten, waren die als Graue Wölfe berüchtigten, paramilitärischen
MHP-Kommandos damals in blutige Strassenschlachten involviert. Zahllose
politische Morde an linken Widersachern gehen auf ihr Konto. Ecevit, der
bereits Ende der siebziger Jahre Regierungschef der Türkei war, prangerte
die MHP damals als eine faschistische, Nazi-artige Macht an, die nach und
nach staatliche Institutionen besetze.
Veränderte Zeiten?
Die Zeiten hätten sich verändert, sagt der Kolumnist der
nationalistischen Tageszeitung «Türkiye» Altemur Kilic
im Gespräch. In den siebziger Jahren glaubten die MHP-Militanten,
den Staat vor dem Kommunismus beschützen zu müssen. Denn türkische
Gewerkschaften, Parteien und Intellektuelle seien damals der kommunistischen
Ideologie verfallen gewesen. Heute hingegen sei in der Bevölkerung
das Gefühl des militanten Nationalismus weit verbreitet. Der 75jährige
Kilic muss es wohl wissen. In den fünfziger Jahren Pressesprecher
des 1960 gestürzten und später gehenkten Ministerpräsidenten
Adnan Menderes, schloss er sich darauf der extrem- nationalistischen Bewegung
an und wurde zu einem ihrer wichtigsten Ideologen. Die Ideologie der MHP
leitet sich vom Pan-Turanismus ab, diesem wirren, bald ein Jahrhundert
währenden Traum einer Vereinigung aller Turkvölker von Zentralasien
bis zum Balkan. Die Rhetorik mancher MHP-Kader erinnert an Nazi-Deutschland.
In den Schriften des verstorbenen MHP-Gründers Alparslan Türkes
ist etwa viel die Rede von der moralischen und kulturellen Überlegenheit
der türkischen Rasse. Die MHP ist ferner religiös. Was sie von
der islamistischen Fazilet unterscheidet, ist laut Kilic der Wille seiner
Partei, den Islam von den arabischen Elementen zu reinigen. Für die
MHP ist ein Türke zuerst ein Türke und erst dann ein Muslim.
Commonwealth turksprachiger Staaten
Kilic tritt in aussenpolitischen Fragen, so sagt er, für die Realpolitik
ein. Da eine organische Vereinigung der türkischen Welt heute kaum
realistisch sei, strebe die MHP ein Commonwealth der sieben turksprachigen
Staaten an. Der Verwirklichung dieses Ziels wolle seine Partei höchste
Priorität einräumen. Für die Türkei sei es auch nicht
realistisch, ihre Bindungen zur Europäischen Union ganz abzubrechen.
Ankara könne aber nicht hinnehmen, von der EU erniedrigt und permanent
draussen vor der Tür gelassen zu werden. Es solle deshalb den Vertrag
zur Zollunion nochmals überarbeiten.
Hinter Kilics Weltbild versteckte sich der Anspruch einer Nation, die
sich als Regionalmacht versteht. Die Türkei unterstütze die Unabhängigkeit
Kosovos, nicht aber der Kurden im Nordirak, sagte er. Die Situation der
zwei Völker möge zwar identisch sein. Der Unterschied bestehe
aber darin, dass die Unabhängigkeit Kosovos im Interesse der Türkei
liege, die Unabhängigkeit der Kurden aber nicht. Alle grossen Staaten
hätten doppelte und dreifache Standards - so auch die Türkei,
meint der Kommentator selbstsicher. Er scheint internationalen Druck wegen
der systematischen türkischen Menschenrechtsverletzungen oder gar
eine Intervention wie in Kosovo nicht zu befürchten. Innenpolitisch
tritt er für die Schliessung der prokurdischen Demokratiepartei (Hadep)
ein. Die Hadep hat bei den Kommunalwahlen die Bürgermeisterämter
der wichtigsten Städte Südostanatoliens für sich gewinnen
können.
Isolation als Folge
Die Wähler haben die DSP und die MHP beauftragt, die Türkei
ins 21. Jahrhundert zu führen, lautet die Bilanz der Presse. Präsident
Demirel wird Anfang Mai den DSP-Vorsitzenden Ecevit mit der Regierungsbildung
beauftragen. Um eine tragfähige Regierung zu bilden, wird eine Drei-
Parteien-Koalition benötigt. Ironischerweise scheint allein eine Koalition
der Nationalisten zwischen DSP, MHP und wahrscheinlich der Anap Stabilität
zu garantieren. Eine solche Koalition würde aber die Türkei unausweichlich
in die aussenpolitische Isolation treiben. Die Anhänger der DSP wie
der MHP haben das Credo des MHP-Gründers Türkes verinnerlicht,
wonach der Türke keinen Freund ausser den Türken hat.