Traditioneller 1.-Mai-Umzug mit Lücken
Forderung nach Arbeit für alle - Sitzstreik von Autonomen
Der bewilligte 1.-Mai-Umzug vom Central zum Helvetiaplatz verlief nach einem verzögerten Start friedlich. Die von Stadträtin Esther Maurer befürchteten Konflikte zwischen Türken und Kurden sowie zwischen Serben und Kosovo-Albanern blieben aus. Störaktionen von Autonomen teilten den Umzug. Kantonsrat Franz Cahannes sprach sich in seiner Festansprache für die Umverteilung des Reichtums und der Arbeit aus; Yasar Kaya, Präsident des kurdischen Exilparlaments, verlangte in seiner Rede die Lösung der Kurdenfrage.
mbm. Am Morgen des 1. Mai trafen schon vor 9 Uhr die ersten Umzugsteilnehmer, darunter zahlreiche Ausländer, beim Central ein, formierten sich zaghaft und genossen den Sonnenschein. Aus Lautsprechern tönte Musik, Luftballone wurden verteilt, Transparente entrollt, und hin und wieder gab jemand über ein Mikrophon organisatorische Anweisungen.
Polizisten als Provokateure beschimpft
Als dann um 10 Uhr die Nachricht die Runde machte, dass beim Bahnhof
zwei Personen verhaftet worden seien, die Waffen mit sich geführt
hätten, geisselten verschiedene Redner das Vorgehen der Polizei. Diese
störe mit ihren Provokationen und schon mit ihrer blossen Anwesenheit
entlang der Route den friedvollen und friedlichen Ablauf des Umzugs, wie
ihn der Stadtrat verlangt hatte.
Als Scharfmacherin tat sich dabei vor allem die Linksaktivistin Andrea
Stauffacher hervor, die Mitte des vergangenen Aprils vom Bezirksgericht
Zürich wegen Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Verstosses
gegen das Vermummungsverbot zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von
sechs Monaten verurteilt worden war. Sie erklärte, dass erst abmarschiert
werde, wenn die Verhafteten frei seien. Die Polizei blieb aber hart und
liess ausrichten, die Verhafteten müssten zuerst durch das Detektivbüro
einvernommen werden.
Gewisse Organisatoren wollten partout auf ihrem Standpunkt beharren,
als sich aber zunehmend Unmut und Ungeduld in den Reihen der mittlerweile
ungefähr 10 000 Personen breit machte, startete der Umzug - ein Meer
von Fahnen und Ballonen - um 10 Uhr 50 auf die neue Route: Bellevue, Quaibrücke,
Bürkliplatz, Bahnhofstrasse, Paradeplatz, Bleicherweg, Stauffacherstrasse,
Helvetiaplatz.
An der Spitze des Umzugs, hinter einem Polizeiauto, marschierten junge
Frauen, die ein Transparent mit der Parole «Mutterschaftsversicherung
jetzt!» trugen. Dahinter folgten Sektionen der Personal- und Gewerkschaftsverbände,
linke Parteien, eine Gruppe Autonomer und schliesslich verschiedene Ausländerorganisationen.
Die von Stadträtin Esther Maurer, Polizeivorsteherin, befürchteten
Konflikte zwischen Türken und Kurden einerseits und Serben und Kosovo-Albanern
anderseits blieben aus, die bewilligte Demonstration verlief völlig
friedlich. Auf Plakaten, Transparenten, Fahnen und in Sprechchören
wurde ein Mindestlohn von 3000 Franken gefordert, der Nato-Einsatz in Serbien
kritisiert, der Kapitalismus verurteilt. Zentrale Themen waren auch die
Umverteilung des Reichtums, die Globalisierung der Wirtschaft, die Arbeitszeitreduktion,
der Prozess gegen Kurdenführer Abdullah Öcalan und der Wahlsieg
der SVP bei den Kantonsratswahlen. Und immer wieder wurden Parolen wie
«Hoch die internationale Solidarität» skandiert.
Protesthalte bei Bellevue und Paradeplatz
Während die Gewerkschafter, die Personalverbände und die
meisten Parteien forsch und ruhig ihres Weges zogen, geriet der Umzug im
hinteren Teil ins Stocken. Vor den Vertretern der Alternativen Liste, mit
dem neu in den Kantonsrat gewählten Peider Filli, tat sich deshalb
bald eine Lücke auf. Und beim Bellevue hielt die Spitze des zweiten
Umzugsteils ganz inne; die Teilnehmer stauten sich fast auf der ganzen
Länge des Limmatquais. Den Unterbruch verursacht hatte die Gruppe
Autonomer, die pausenlos über die Verhaftungen lamentierte und drohte,
erst wieder weiterzugehen, wenn die Verhafteten frei seien. Auf der Höhe
der Wasserkirche setzten sich die Autonomen auf die Tramgeleise und warteten
auf ein Zeichen der Polizei.
Brennende Flaggen
Nach einer halben Stunde bewegte sich der zweite Teil des Zuges weiter,
schon am Paradeplatz wurde ein weiterer «Protesthalt» von 20
Minuten eingelegt. Dort verbrannte auf dem Dach der Tramhaltestelle ein
Vermummter der Reihe nach Flaggen der Schweiz, der USA und der Nato - unter
dem Applaus der Zuschauer. Etwa um 13 Uhr kamen die letzten Umzugsteilnehmer
am Helvetiaplatz an, so dass die Redner mit einer Stunde Verspätung
das Wort ergreifen konnten. SP-Kantonsrat Franz Cahannes, Präsident
des kantonalen Gewerkschaftsbundes, forderte die Umverteilung des Reichtums
und der bezahlten Arbeit. Die überall zu beobachtende Entwicklung,
dass auf die Löhne gedrückt, rationalisiert, flexibilisiert und
entlassen werde, sei fatal und gelte es aufs schärfste zu verurteilen.
Immer mehr Vollzeitarbeitende könnten ihren Lebensunterhalt nicht
mehr bestreiten. Dieser Umstand sei eine soziale Zeitbombe und führe
in die «Armutsfalle». Auch sei der Globalisierung der Märkte
die «Globalisierung der Solidarität» entgegenzusetzen.
Prioritär seien zudem die Verkürzung der Arbeitszeit auf 36 Wochenstunden
und die Einführung der Kapitalgewinnsteuer.
Forderung nach Kurdistan-Konferenz
Yasar Kaya, Präsident des kurdischen Exilparlaments, wurde mit
Sprechchören begrüsst. Er redete in kurdischer Sprache, seine
Worte wurden Satz für Satz ins Deutsche übersetzt. Nach einem
Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der Kurden ging er auf die
heutige Lage ein. Weil die Türkei den Kurden alle demokratischen Wege
verbaut hätten, sei ihnen nur noch der bewaffnete Kampf geblieben
- ein legitimer Kampf und keine terroristische Bewegung, wie Kaya betonte.
Er kritisierte die Weltöffentlichkeit, die dem Genozid der Kurden
zuschaue und ihre Parteien verbiete, und vor allem die Länder, welche
der Türkei Waffen lieferten. Sodann prangerte er die Rolle der EU
an, die sich den Anliegen der Kurden verschliesse, und sprach sich für
die Freilassung des in der Türkei inhaftierten Kurdenführers
Öcalan aus. Im Mittleren Osten sei weder Frieden noch Stabilität
möglich, wenn die Kurdenfrage nicht gelöst werde. Im Interesse
der ganzen Welt sei eine internationale Kurdistan-Konferenz einzuberufen.
Im Anschluss an Kayas Rede stiegen als Symbol für die Freiheit Kurdistans
Tausende roter Ballone in die Luft. Am Nachmittag und am Abend fand auf
dem Kasernen- und auf dem Kanzleiareal noch ein internationales Volksfest
statt.