Berichte und Dokumente zum Wahlausgang in der Türkei
Die Faschisten und die Militärs sind die „Wahlsieger“ in der
Türkei
HADEP erreicht 67% in den kurdischen Kriegsprovinzen und stellt
viele Bürgermeister
Die nationalistische und rassistische Mobilisierung in der Türkei
nach der Verschleppung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und der
Beteiligung der türkischen Armee beim Natoangriff auf Jugoslawien
zeigte Wirkung: Die faschistische Partei der nationalen Bewegung MHP erzielte
mit 18,1% der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte und wurde zweitstärkste
Partei im Parlament. War sie im letzten Parlament gar nicht vertreten,
zieht sie nun mit 130 Abgeordneten ein. Die Demokratische Linkspartei DSP
von Ministerpräsident Ecevit erreichte 22,1% und 134 Mandate. Die
Mutterlandspartei ANAP des stellvertretenden Ministerpräsident Yilmaz
mobilisierte 13,2% (86 Sitze), die Partei des Rechten Weges unter Ciller
12,1% (85 Sitze). Die islamistische Tugendpartei FP kam auf 15,2%
und 110 Sitze und fiel weit hinter das Ergebnis der verbotenen Wohlfahrtspartei
Erbakans zurück, die 1995 stärkste Partei geworden war.
In diesem Wahlkampf bestimmten der Kampf gegen die PKK und die Zurschaustellung
des in die Türkei verschleppten PKK-Vorsitzenden in den Medien, die
harte Haltung in der Zypernfrage und der Eintritt in den Krieg auf dem
Balkan die Themen. Evevit gab sich als Garant für die „Einheit der
Türkei“ und zeigte sich seit dem Kidnapping von Öcalan in Siegerpose.
In den 70er Jahren wurde unter seiner Ministerpräsidentschaft Nord-Zypern
besetzt. Ecevit wurde vor allem in den Industrieregionen der Schwarz- und
Mittelmeerküste gewählt.
Die Faschisten zogen neben den Wahlkreisen der Hauptstadt Ankara ihre
Stimmen aus den Städten und Dörfern Zentralantoliens. Diese Region
erlebte in den vergangenen Jahren keinen wirtschaftlichen Fortschritt,
ihre Bevölkerung war auch schon immer eine Stütze des Militärs.
Viele junge Männer der Landbevölkerung Zentralanatoliens haben
sich als Soldaten für den Krieg in Kurdistan anwerben lassen. Dementsprechend
hoch ist hier der Anteil an Familien, die in dem Krieg in Kurdistan Angehörige
verloren haben. Kameradschafts-, MHP- und Hinterbliebenvereine mobilisierten
hier für die Faschisten. Das Wahlkampfprogramm der MHP lautete: „Für
die Türkei“, „Hinrichtung des Babymörders Öcalan“, gegen
Europa und für die panturkistische Einheit der „Turkvölker“.
Der Sprecher der MHP, Türkoglu, rief auf, „Öcalan so schnell
wie möglich“ hinzurichten und die PKK auszurotten. Die Faschisten
kommen sogar noch auf rund 30 zusätzliche Sitze im Parlament, da auf
den Listen von DSP, ANAP und DYP Mitglieder der MHP positioniert worden
waren.
Die prokurdische HADEP scheiterte mit landesweit 4,7% an der Zehnprozenthürde
an einem Parlamentseinzug. Aber in den kurdischen Gebieten erreichte sie
67% der Stimmen. Ihr Wahlkampf wurde von Verbotsverfahren, Tausenden von
Verhaftungen, Angriffe auf Kandidaten und Parteibüros und Bedrohung
der Wählerschaft bestimmt. Am Wahltag wurden erneut zahlreiche Kandidaten
der HADEP festgenommen. In fast allen kurdischen Dörfern und auch
in Städten wie bspw. Nusaybin zwang das Militär die Dorfbevölkerung,
die Stimmen offen abzugeben. Oft wurden die Wahllokale schon mittags geschlossen.
In Van und Tunceli verschwanden säckeweise Stimmzettel aus den Wahllokalen.
Kinder fanden in Gaziantep beim Spielen auf der zentralen Müllkippe
am Wahlabend große Mengen von Stimmzetteln. Gegen Wahlhelfer der
HADEP gingen Militär und Polizei auch am Wahltag brutal vor, insgesamt
verloren mindestens zehn Menschen in Istalbul, Bingöl, Urfa, Kastamonu
und Kars das Leben.
Aber die Wahl der HADEP konnte trotz aller Einschüchterungsmaßnahmen
in den kurdischen Provinzen nicht verhindert werden. Ein neues Bild stellt
sich bei Bürgermeisterwahlen in den kurdischen Provinzen: In Diyarbakir,
Siirt, Batman, Bingöl, Van, Hakkari und Agri sowie in 40 Kreisen stellt
die HADEP die neuen Bürgermeister. Das Wahlergebnis dokumentiert eindeutig,
daß die prokurdische HADEP ihre Basis in der Kriegsregion hat und
die Menschen in Kurdistan den Kurs einer politischen Lösung des Kurdistankonfliktes
unterstützen. .Das Handelsblatt bezeichnete den kommunalen Wahlsieg
der HADEP in Kurdistan als „empfindliche Schlappe“ für die Kurdenstrategie
des türkischen Staates. „Einerseits stempelt er die Guerillaorganisation
PKK zu einer kleinen Bande radikaler Gewalttäter ohne Rückhalt
im Volk ab. Und die Justiz will die Hadep mit der Begründung verbieten,
sie sei eine Frontorganisation der PKK. Anderseits erwies sich aber gerade
diese ‘Frontorganisation’ nun als hochpopulär.“ (20.4.)
Auffällig ist, daß im Westen der Türkei, besonders
in den großen Metropolen wie Istanbul, Ankara, Izmir usw. wenig Stimmen
für die HADEP abgegeben wurden. Sie konnte die kurdischen Flüchtlinge
nicht zu den Wahlen mobilisieren. Das kann nicht nur an den gefälschten
oder fehlenden Eintragungen in den Wählerverzeichnissen liegen.
Die türkische Linke hatte eine gemeinsame Kandidatur mit der HADEP
verworfen. ÖDP, SIP, EMEK und andere spielten so überhaupt keine
Rolle bei der Stimmverteilung und wurden in die Bedeutungslosigkeit verdammt.
Das ist um so bedauerlicher, da auf diese Weise keine gemeinsame Demonstration
türkischer und kurdischer Organisationen gelang für eine Friedenslösung
in Kurdistan und für eine Demokratisierung der Türkei.
Auch das wird sich negativ in dem Wahlergebnis für die HADEP im
Westen der Türkei niedergeschlagen haben. Es fehlte so eine Verbindung
zwischen den Problemen und Interessen der Menschen in den Industrieregionen
im Westen der Türkei und denen der Menschen in den Kriegsgebieten.
Zu erwarten ist, daß eine neue Koalition von DSP und MHP mit
ANAP unter Führung von Ecevit installiert wird. Schon jetzt kann gesagt
werden, daß die nationalistische und faschistische Mobilisierung
die Gesellschaft der Türkei weiter polarisiert hat. Den Kräften
für eine Lösung der Kurdistanfrage steht jetzt im Parlament ein
nationalistisch-faschistischer Block gegenüber, der einen Vernichtungs-
und Ausrottungskrieg befürwortet. Die MHP-Kräfte forderten sofort
nach der Wahl die „Ausrottung der PKK“ mit Angriffen im gesamten Mittleren
Osten und die rasche Beseitigung Öcalans. Der IHD befürchtet
die Ausweitung von Folterterror und Morden „unbekannter Täter“. Die
Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafts- und HADEP-Funktionäre und
besonders auch die neuen Bürgermeister sind jetzt Angriffsziele Nummer
eins der faschistischen Konterguerilla. Das Militär wird eine Koalition
der Nationalisten und Faschisten befürworten. Tritt die Anap unter
Yilmaz hinzu, wird es eine Beruhigung der Industrie und der EU geben. Das
Handelsblatt titelte am 20.4. schon mit „Das Gespenst des islamischen Fundamentalismus
ist vorerst gebannt“.
Wichtig wäre es jetzt, daß die Bürgermeister der HADEP
unterstützt werden. Auf kommunaler Ebene können jetzt aus Europa
Patenschaften und Städteverbindungen, Besuche von Kommunalpolitikern
usw. angeregt werden. Die Kommunalpolitiker und die neuen Bürgermeister
HADEP haben jetzt schon aufgerufen, ihre Arbeit zu unterstützen. (rub)
Endergebnisse der Wahlen in der Türkei am 18.April 1999 (nach Daten
des Oberen Wahlausschusses am 22. April 1999)
Gesamt: 100% (550% Abgeordnete, 3.173 Bürgermeister)
*Nationalistisch:* 41.51% (265 Abgeordnete 711 Bürgermeister)
DSP (Demokratische Links-Partei) 22.06% (136 Abgeordnete 187
Bürgermeister)
MHP (Partei d. Nat. Bewegung) 17.98% (129 Abgeordnete 499
Bürgermeister)
BBP (Große Unions-Partei) 1.47% (25 Bürgermeister)
*Mitte-rechts:* 27.03% (171 Abgeordnete 1505 Bürgermeister)
ANAP (Mutterland-Partei) 13.22% (86 Abgeordnete 761 Bürgermeister)
DYP (Partei des rechten Weges) 12.00% (85 Abgeordnete 726
Bürgermeister)
DTP (Democratische Türkische Partei 0.58% (14 Bürgermeister)
LDP (Liberal-Democratische Partei) 0.41% (0)
DP (Democratische Partei) 0.29% (4 Bürgermeister)
MP (Nations-Partei) 0.26% (0)
YDP (Wiedergeburts-Partei) 0.15% (0)
DEPAR (Partei der sich ändernden Türkei) 0.12% (0)
*Islamistisch:* 15.38 (111 Abgeordnete 492 Bürgermeister)
FP (Tugend-Partei) 15.38 (111 Abgeordnete 492 Bürgermeister)
*Mitte-Links:* 9.23% (371 Bürgermeister)
CHP (Republikanische Volks-Partei) 8.79 (365 Bürgermeister)
BP (Friedens-Partei) 0.25% (6 Bürgermeister)
IP (Arbeiter-Partei) 0.19% (0)
*Sozialistisch und/oder Pro-Kurdisch:* 5.95% (41 Bürgermeister)
HADEP (Demokratische Volks-Partei) 4.73% (39 Bürgermeister)
ODP (Freiheits- und Solidaritäts- Partei) 0.84% (1 Bürgermeister)
EMEP (Partei der Arbeit) 0.17% (0)
SIP (Sozialistische Macht-Partei) 0.13% (0)
DBP (Demokratie- und Friedens-Partei) 0.08% (1 Bürgermeister)
*Unabhängige* 0.93% (3 Abgeordnete 53 Bürgermeister)
*
_HADEP-Ergebnisse: Diyarbakir_
Wahlberechtigte: 239.857
ANAP (Mutterlandspartei) 3,12%
CHP (Republik. Volkspartei) 1,40%
DSP (Demokr. Linkspartei) 2,70%
DYP (Partei d. Rechten Weges) 1,85%
FP (Tugendpartei) 23,62%
HADEP 63,74%
Damit Bürgermeister: Feridun Celik, Hadep
Quelle: TRT, Mon, 19. April, 23:02 Uhr.
*Ergebnisse in kurdischen Provinzen*
Agri
32,00%
Amed
43,00%
Batman 44,88%
Bingöl 12,42%
Bitlis 13,69%
Dersim 13,53%
Hakkari 45,61%
Igdir 32,00%
Kars
18,70%
Mardin 19,36%
Mus
37,38%
Siirt 36,00%
Sirnak 26,58%
Urfa
15,59%
Van
38,37%
Quelle: Özgür Politika, 20.4.99
Anm. d. Red.: Nach „Özgür Politika“ hätte die HADEP
in diesen Provinzen ohne die 10%-Klausel 31 Abgeordnete ins türkische
Parlament geschickt.
“Auf keinen Fall fair und demokratisch“
In einer ersten Erklärung nach dem Wahlausgang betonte der Sprecher
der HADEP, Ali Özcan, die am 18. April durchgeführten Parlaments-
und Kommunalwahlen könnten „auf keinen Fall als fair und demokratisch
bezeichnet werden.“ Weiter heißt es in der Erklärung:
Nachdem der Wahltermin festgelegt worden war, wurde unsere Partei in
allen Bereichen mit Unterdrückungsmaßnahmen konfrontiert. Seit
dem 19. November 1998 befinden sich sechs unserer führenden
Mitglieder in Haft, darunter unser Parteivorsitzender mit seinen Mitarbeitern
und unser Generalsekretär. Bis heute wurden 116 unserer Funktionsträger
und über 5.000 unserer Mitglieder unter verschiedenen Vorwänden
in polizeilichen Gewahrsam genommen und jeweils nach sieben Tagen freigelassen,
während einige unserer Freunde in kurzen Abständen wiederholt
festgenommen wurden.
Am 29. Januar 1999 wurde ein Verbotsverfahren gegen unsere Partei eröffnet.
Darauf folgten zwei weitere Prozesse zum Verbot der Teilnahme unserer Partei
an den Wahlen, der letzte wurde erst vier Tage vor den Wahlen entschieden,
während der Prozeß zum Verbot unserer Partei andauert.
Hiernach wurden die Unterdrückungsmaßnahmen auf unsere Kandidaten
konzentriert ... Unser einziger mit Lautsprechern und anderen Geräten
für Wahlveranstaltungen ausgestatteter Bus wurde uns wiederholt weggenommen,
mit einem Bußgeld von ca. 1 Milliarde TL belegt und schließlich
am 13. April in Diyarbakir endgültig beschlagnahmt. ...
Während alle anderen Parteien ihren Wahlkampf problemlos durchführen
konnten, wurde unserer Partei unter verschiedenen Vorwänden verboten,
ein Wahlbüro zu eröffnen, Flaggen, Transparente und Plakate aufzuhängen
und mit Lautsprecherwagen Wahlwerbung zu machen. Zur Begründung für
die Beschlagnahme unseres Busses wurden lächerliche Vorwände
erfunden, angefangen vom Fehlen von Kreide im Bus bis zu dem Vorwurf, wir
würden den Bus kostenlos benutzen bzw. den Eigentümer nicht bezahlen.
Uns wurde sogar die Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen,
da selbst beim Vorbeifahren des leeren Busses „alle applaudieren“ würden.
Nach all diesen Vorwürfen durften am Wahltag in keinem Wahllokal
Wahlbeobachter unserer Partei an den Urnen stehen, obwohl uns dieses Recht
gesetzlich zusteht. Einige Wahlbeobachter wurden festgenommen.
...
Trotz alledem haben wir in mindestens sieben Provinzstädten und
insgesamt 38 Siedlungseinheiten (Verbandsgemeinden) Bürgermeisterposten,
in vielen Provinzstädten Sitze in den Stadtparlamenten sowie Stadtratsposten
errungen. Auch in den vier Städten und Verbandsgemeinden Igdir, Tunceli,
Mersin-Akdenz und Mersin-Toroslar gehen wir davon aus, die Wahlen gewonnen
zu haben ... Nach der endgültigen Auszählung wird unser
Stimmenanteil voraussichtlich 5% betragen.
Hält man sich die beschriebenen Bedingungen vor Augen und berücksichtigt,
daß uns darüber hinaus Stimmen gestohlen oder ausgetauscht wurden,
so stellt das offizielle Ergebnis trotz allem für uns einen Erfolg
dar. Wir können ohne Übertreibung behaupten, daß wir bei
einem demokratischen Wahlverlauf über 100 Stadtverwaltungen und landesweit
12 bis 13 Prozent der Gesamtstimmen gewonnen hätten.
(Ali Özcan, Ankara, 20.4.99)
Erklärung des Frauenbüros der HADEP
Die Ergebnisse der Kommunal- und Parlamentswahlen stehen fest.
Hinsichtlich der Kommunalwahlen hat die HADEP den erwarteten Erfolg erreicht.
Sie hat die Kommunalwahlen in sieben großen Städten, darunter
Diyarbakir und Van, sowie in zwanzig weiteren Kreisstädten gewonnen.
Alle diese Städte befinden sich im Ausnahmezustandsgebiet.
Die Wahlen sind gewonnen, die eigentliche Arbeit beginnt nun. Denn
die Städte sind Zentren, die seit Jahren Leid und Zerstörung
erleben. Deshalb gibt es sehr viel zu tun, insbesondere für
Frauen und Kinder zu tun. Die Tatsache, daß wir dabei mit Euch in
Zusammenarbeit stehen und Solidarität erfahren, wird uns stärken.
Wir möchten Frauen und Kindern Gesundheitsdienste schaffen und
Frauen Möglichkeit der juristischen und psychologischen Beratung bieten.
Im Bereich der Erziehung wollen wir in den einzelnen mehrere Projekte realisieren.
Wir sind zuversichtlich, daß wir diese Vorhaben mit Euch in die Tat
umzusetzen können.
Wir können mit Stolz mitteilen, daß von den gewählten
Oberbürgemeistern vier Frauen sind, in
Mardin-Kiziltepe: Cihan Sincar
Mardin-Derik: Ayse Karadag,
Agri-Dogubeyazit: Mukaddes Kubilay,
Agri-Diyadin: Ferah Diba Ergin.
Wir sehen in diesem Ergebnis eine Chance für Frauen hinsichtlich
der Verbesserung der politischen Beteiligung und der gesellschaftlichen
Stellung.
Der Erfolg der 4 Bürgermeisterinnen ist nicht nur ihr persönlicher
Erfolg, sondern wir sind überzeugt, daß es ein Erfolg aller
Frauen sein wird.
In der Hoffnung auf eine Entwicklung eines Dialoges mit Euch wünschen
wir Euch bei Eurer Arbeit viel Erfolg.
Das Zentrale Frauenbüro der HADEP
Ein Wahlsieg für die Militärs in der Türkei
Nach Rückkehr von einem Besuch als Wahlbeobachterin erklärte
die innenpolitische Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion Jelpke:
Der Ausgang der Parlamentswahlen bestärkt die Kräfte der
Militarisierung der Gesellschaft in der Türkei. Bei meinen Gesprächen
mit Vertretern der Menschenrechtsvereine und demokratischer Parteien in
Ankara haben mir diese versichert, daß die Militärs auf die
Parteien, die jetzt als Sieger aus den Wahlen hervorgingen, systematisch
gesetzt haben. Sowohl die „Demokratische Linkspartei“ (DSP) unter Ecevit
als auch die faschistische „Partei der nationalistischen Bewegung“ (MHP)
haben türkischen Nationalismus und die militärische Bekämpfung
der kurdischen Bewegung auf ihre Fahne geschrieben. Seit der Verhaftung
des PKK-Vorsitzenden Öcalan triumphiert diese Richtung in der türkischen
Politik. Eine solche Parteienkonstellation hat noch immer zu einer weiteren
Militarisierung der türkischen Gesellschaft geführt. Eine ganz
ähnliche Konstellation bestand schon einmal Ende der 70er Jahre in
der Türkei und führte dann zum Militärputsch. Heute regiert
das Militär ohnehin, die zivilen Parteien können ohne die Direktiven
des von den Militärs kontrollierten Nationalen Sicherheitsrates keine
Entscheidung fällen.
In den kurdischen Gebieten hat die prokurdische Partei HADEP trotz
heftigster Verfolgung durch die Machthaber ihre Position ausbauen können.
In Diyarbakir, Sirnak, Hakkari, Siirt, Batman, Bingöl und anderen
Provinzen und Städten wurde sie zum Teil mit Abstand stärkste
Partei. Ob dies eine Möglichkeit für kurdische Selbstverwaltung
eröffnet, wird vor allem von der Haltung der Militärs gegenüber
diesen Bürgermeistern und kommunalen Vertretungen abhängen.
Die Vertreter der Menschenrechtsvereine und demokratischer Parteien
bewerten das Gesamtergebnis als Zustimmung für den Krieg in Kurdistan
und zu einer weiteren Militarisierung der türkischen Politik. Die
„Morde unbekannter Täter“, die Menschenrechtsverletzungen, Folterungen
und Zerstörungen kurdischer Dörfer werden wieder die Tagesordnung
der türkischen Politik bestimmen. Diesen Eindruck kann ich nur bestätigen.
Im NATO-Land Türkei kann von demokratischen Zuständen weiterhin
keine Rede sein. Ob das die NATO und die Bundesregierung stören wird,
ist zu bezweifeln. Schließlich hat auch bisher die militärische
Funktion der Türkei alle außenpolitischen Überlegungen
in Bonn und den anderen NATO-Hauptstädten dominiert. (PM, 20.4.99)
Beobachtungen zum Wahlverlauf
Das Troisdorfer Büro, das die Delegationen zur Beobachtung der
Wahlen zum Parlament und zu den Kommunalvertretungen organisiert hatte,
veröffentlichte am 19.4. Beobachtungen der Delegationen.
*Adana:* In der Region von Adana nahmen Sicherheitskräfte anhand
von Namenslisten bekannte HADEP-Anhänger vor den Wahllokalen fest.
(Quelle: Wahlbeobachterdelegation Islanbul)
*Batman:* Eine englische Delegation wurde am 17.4. aus der kurdischen
Stadt Batman mit der Begründung, ihre eigene Sicherheit sei nicht
gewährleistet und sie würden das Wahlergebnis beeinflussen, ausgewiesen.
Wie die HADEP-Batman telefonisch mitteilte, mußten auch dort
die Stimmen offen abgegeben werden. Allen Wahlhelfern - außer denen
der DYP - wurde der Zutritt zu den Wahllokalen verweigert.
*Bingöl:* Die Repression gegen die kurdische Bevölkerung
im Zusammenhang mit den Wahlen hat in der Stadt Bingöl am 17.04.1999
zwei Todesopfer gefordert. Bei ihnen handelt es sich um die Jugendlichen
Yilmaz Elveren (17 J.) und Mehmet Elveren (19 J.). Sie wollten für
die HADEP Wahlbroschüren verteilen. Dabei wurden sie von Özel-Tims
(Spezialeinheiten) angegriffen. Bei ihrem Fluchtversuch wurden sie von
hinten erschossen. Um ihre Identifizierung zu erschweren, sind Handgranaten
auf die beiden Leichname geworfen worden.
In einigen Dörfern, so z.B. in Karliova, mußten Stimmzettel
offen abgegeben werden. Im Dorf Kalancik ging der Gendarmerie-Kommandant
persönlich zu den Wahlurnen und gab vor, wie die Stimmen verteilt
sein müssen. Nach seinen Anweisungen mußten 25% der Stimmen
der MHP (Nationalistische Bewegungspartei) und 25% unabhängigen Kandidaten
abgegeben werden. Der restliche Anteil durfte frei gewählt werden.
Die Stimmenabgabe erfolgte auch hier öffentlich.
In den Ortschaften Yamac-Gökdere und Disbudak haben die Dorf-
und Stadtvorsteher die Wähler daran gehindert zu wählen und sich
als deren Wahlvertretung an die Urnen begeben und die Stimmen der ANAP
(Mutterlandspartei) gegeben. Aus Protest gegen den Zwang zur öffentlichen
Wahl haben 115 Personen ungültige Stimmzettel abgegeben. (Quelle:
telefonische Mitteilung der HADEP-Zentrale in Ankara)
*Bitlis:* In der Stadt Narlidere/Bitlis zwang das Militär die
Bevölkerung, die Stimme offen abzugeben. Außerdem haben die
Sicherheitskräfte in der Stadt Hizan statt die Stimmen der Wähler
ihre eigenen Stimmen an die DYP (Partei des Rechten Weges) abgegeben.
(Quelle: HADEP- Zentrale in Ankara)
*Dersim:* In Dersim (Tunceli) sind vier Säcke mit Stimmzetteln
verschwunden. Die Vertreter der HADEP legten dagegen Widerspruch ein und
warteten bis vier Uhr morgens vor dem Gerichtsgebäude. Da sie dort
von Sicherheitskräften bedroht wurden, mußten sie gehen, ohne
daß die Stimmzettel wieder auftauchten. (Quelle: HADEP-Dersim)
*Diyarbakir:* Die deutsche Delegation wurde bei der Einreise zwei Stunden
lang festgehalten und befragt. Nur durch die Vermittlung einer Mitarbeiterin
der deutschen Botschaft konnten sie in die Stadt, wurden aber mit einem
„Kontakt-Verbot“ belegt. Am Wahltag waren die Straßen leer. Gewählt
wurde in Mini-Räumen. Für die HADEP war die Wahl durch Massenfestnahmen
von Kandidaten und Mitgliedern am 16.04.99 auf einer Wahlkampfveranstaltung
bereits seit diesem Tag nahezu unmöglich gemacht worden. (Quelle:
Wahlbeobachterdelegation in Diyarbakir)
Im Stadtviertel Aziziye wurde der Bezirksratskandidat für Yenisehir,
Dr. Remzi Azizoglu, verhaftet. Ein weiterer Kandidat für den Bezirk
Suriciye wurde als Beobachter in dem Wahllokal an seiner Arbeit behindert.
In Cinar wurden in über 30 Dörfern die Wähler von Dorfschützern
unter Drohungen dazu gezwungen, ihre Stimmzettel frei sichtbar abzugeben.
Reporter der türkischen Fernsehsender atv, Kanal 6 und der Nachrichtenagentur
Reuters wurden von den Sicherheitskräften mit Schlägen und Fußtritten
aus dem Dorf befördert, als Sie dies dokumentieren wollten. Ein Rechtsanwalt
und ein Abgeordneten-Kandidat aus Diyarbakir wurden festgenommen, als sie
vor Ort gegen diese Maßnahme protestieren wollten. Die HADEP-Kandidaten
Musa Faerisoglu, Abdullah Yavuz und zwei Mitglieder wurden verhaftet.
In Lice wurden am 17. und 18.4. zahlreiche Personen bei Hausdurchsuchungen
festgenommen und nach ihrer Freilassung von Soldaten an der Wahl gehindert,
darunter ein Bürgermeister. Ein Abgeordneten-Kandidat durfte in der
eigenen Stadt nicht wählen.
Im Stadtviertel Molla, das zu Lice gehört, wurden die Wähler
dazu aufgefordert, ihre Stimmen offen abzugeben, ebenso in den zu Ergani
gehörenden Dörfern Hendek, Yayvatepe, Hersin, in den zu Bismil
gehörenden Dörfern Köseli und Saritoprak, in Sükürlü
und 11 weiteren Dörfern. Im Dorf Aralik hat der Dorfvorsteher Kazim
Budak anstatt die Stimmen der Wähler, seine Stimmen an die DYP abgegeben.
Die Beauftragten der HADEP für die Urnen und Wähler, die sich
weigerten, wurden dabei verhaftet. Auch wird aus Diyarbakir gemeldet, daß
viele Urnen ohne Auszählung auf Polizeiwachen stehen. (Quelle: HADEP
Ankara, HADEP-Diyarbakir)
*Dogubeyazit:* In den Dörfern Karabulak, Terkeker, Bardakli, Bozkurt,
Dalbahce, Hallac und Sagdic wird die Bevölkerung durch das Militär
gezwungen, die Stimmen offen abzugeben. (Quelle: telefonische Mitteilung
der HADEP-Dogubeyzit)
*Mardin:* Eine PDS-Delegation aus Bremen unter Beteiligung des Vizepräsidenten
des Landtages von Thüringen, Dr. Roland Hahnemann, konnte heute den
Ablauf der Wahlen in den Wahllokalen der Bezirke Saracoglu und Ensar beobachten.
Im Wahlbezirk Ersan teilte ihnen ein HADEP-Vertreter mit, daß er
in einem Raum zwei präparierte Urnen gesehen hat. In Gesprächen
wurde ihnen berichtet, daß zu Beginn des Wahlkampfes am 8. April
HADEP-Plakate und Fahnen von Maskierten in Panzerfahrzeugen deutscher Herkunft
entfernt wurden. (Quelle:
PDS-Delegation aus Bremen)
*Siirt:* Im Dorf Gökcebag wurden die Mitglieder der HADEP am 17.4.
geschlagen und verhaftet; sie wurden bedroht und ihre Ausweise zerrissen.
Daraufhin ließen sie sich neue Ausweise ausstellen und wollten ihre
Arbeit wieder aufnehmen. Sie wurden jedoch erneut verhaftet. Im Dorf Cankaya
wurden die abgegebenen Wahlstimmen für die HADEP von dem Wahlvorsitzenden
der türkischen Regierung vernichtet. In der Stadt Atabagi im Landkreis
Baykan wurden die Menschen von Militär und Sicherheitskräften
gezwungen, ihre Stimmen offen abzugeben. (Quelle: HADEP-Zentrale
in Ankara)
*Tatvan:* In den beiden Bezirken Resadiye und Kiyidüzü zwang
das Militär die Bevölkerung zur offenen Stimmabgabe. Eine Beschwerde
dagegen blieb erfolglos. (Quelle: HADEP-Zentrale in Ankara)
*Uludere und Beytüssebap:* Im Rahmen einer Wahlveranstaltung der
HADEP am 17.04.99 wurden insgesamt 403 Personen aus Uludere und Beytüssebap
festgenommen und auf der Polizeistation in Sirnak festgehalten. (Quelle:
HADEP-Zentrale in Ankara) Anzumerken ist, daß die Wahllokale im Osten
bereits um 15 Uhr schließen, die Personen aber um 14 Uhr noch festgehalten
wurden.
*Urfa:* Wie einer deutschen Wahlbeobachterdelegation mitgeteilt wurde,
sollten die Menschen auch hier ihre Stimme offen abgeben. Sie weigerten
sich und forderten eine geheime und demokratische Wahl. Da dies nicht erfüllt
wurde, gaben in zwei Dörfern in Urfa jeweils 286 bzw. 277 Menschen
ungültige Stimmzettel ab. In Viransehir/Urfa haben Spezialeinheiten
die Wahlurnen beschlagnahmt, nachdem anhand der Auszählungen der Wahlsieg
der HADEP sogar vom lokalen Sender Urfa TV bestätigt worden war. (Quelle:
Telef. mit Delegation Van; HADEP-Urfa)
*Van:* Die Beobachter der HADEP (von allen antretenden Parteien ist
ein Vertreter im Wahlbüro anwesend) werden beschimpft und an ihrer
Arbeit gehindert. Zwischenzeitlich ist es zu sechs Festnahmen von HADEP-Beobachtern
gekommen, darunter ein Vorstandsmitglied der Partei. In einem Fall
beobachtete der stellvertretende HADEP-Vorsitzende von Van, wie eine Person
zwei Säcke mit Stimmzetteln von der zentralen Sammelstelle weggetragen
hat, die danach nicht wieder aufgetaucht sind. In einem Sack befinden sich
laut Angaben ca. 1.800 Stimmzettel. In einem zweiten Fall wurde ein
Mann verfolgt, der zwei Säcke mit Stimmzetteln in eine Privatwohnung
brachte. Die Zeugen teilten dies sofort - unter genauer Angabe der Wohnung
- der Polizei mit. Diese blieb tatenlos, bis die Personen drohten, gemeinsam
mit der Presse zu der Wohnung zu gehen. Daraufhin wurden die Zeugen unter
Androhung von Gewalt vertrieben. Auch diese Stimmzettel wurden nicht wiedergefunden.
In drei Wahlkreisen wurden die Wähler gezwungen, MHP zu wählen.
(Quelle: tel. Informationen aus dem Wahlkreisbüro Van und der deutschen
Delegation)
Quelle: Delegationsbüro, Mülheimer Str. 1, 53840 Troisdorf,
Tel.: 02241 / 877 348.