Neues Deutschland 4.5.99

»Volkszorn«, trifft Öcalans Anwälte
Zweite Verhandlung gegen den PKK-Vorsitzenden
 

Von Jan Keetman, Istanbul

Am Wochenende fand in Ankara die zweite Verhandlung gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan nach seiner Festnahme in Abwesenheit des Angeklagten statt.

Vor dem Eingang des Staatssicherheitsgerichtes in Ankara hat sich eine Gruppe älterer Frauen und Männer mit den Bildern ihrer gefallenen Söhne versammelt. Einige haben sich mit Stecknadeln türkische Fahnen wie Schürzen vor die Brust gebunden.
Ein hagerer Mann Mitte 50, an dessen Revers mehrere Medaillen befestigt sind, tritt zeitweise als Wortführer der Gruppe auf. Er heißt Mehmet Altintas und ist Vorsitzender eines von 30 Vereinen der Familien der »Märtyrer«, wie in der Türkei gefallene Soldaten genannt werden. Auf Nachfrage erklärt er die Forderungen ihrer Vereine. Ihr erstes Ziel ist die Hinrichtung des »Vaterlandsverräters« Öcalan, das zweite die Hinrichtung »aller Vaterlandsverräter, die ihm geholfen haben«. Außerdem verhandeln sie mit einem Ministerium um die Erhöhung der monatlichen Rente, die der Staat den Eltern jedes »Märtyrers« zahlt und die derzeit gut das Dreifache des türkischen Mindestlohnes beträgt.
Gelegentlich bricht die Gruppe in wütende Parolen aus wie: »Hunde ohne Vaterland - PKK ohne Nation!« Eine andere Gruppe von Männern mittleren Alters, alle von kräftiger Statur, überbietet sie manchmal noch mit Parolen wie »Die Türkei wird das Grab Apos!« und »Die Märtyrer sind unsterblich, das Vaterland ist unteilbar!« Vor allem stürzt sich die zuletzt genannte Gruppe sofort auf jeden Anwalt Öcalans, den sie zu sehen bekommt. Zweimal gelingt es ihnen, einen Anwalt zu schlagen, ehe sie die reichlich anwesende Polizei abdrängen kann. Diese macht jedoch keinen Versuch, die Angreifer festzunehmen oder ihre Personalien festzustellen.
Im überfüllten Gerichtssaal geht es wieder turbulent, zu. Die Verteidigung stellt den Antrag, das Verfahren wegen mangelnder Unabhängigkeit des mit zwei Zivilrichtern und einem Militär besetzten Staatssicherheitsgerichtes zu stoppen. Wenn nicht, soll das Verfahren näher an den Ort des Geschehens, nach Diyarbakir, verlegt werden. Die »Märtyrer«-Angehörigen im Saal empfinden dies als Zumutung und beschimpfen die Verteidiger als »ehrlos« oder »Nachkommen von Griechen, die die Fahne der PKK verehren«. Eine Frau im Publikum wird ohnmächtig und muß von einem Arzt hinausgebracht werden.
Der Vorsitzende Richter Mehmet Turgut Okyay ist bemüht, die Redezeiten zwischen den 17 Anwälten Öcalans und den rund 70 Anwälten der Nebenklage etwa gleich zu verteilen und ruft das Publikum zur Ruhe auf. Das Gericht lehnt die Anträge der Verteidigung. ab und beschließt, alle Anklagen gegen Öcalan zusammenzulegen und das nächste Mal am 31. Mai in Anwesenheit des Angeklagten auf der Gefängnisinsel Imrali zu verhandeln. Von Verteidigung und Nebenklage sollen jeweils nur 12 Anwälte -sowie weitere 90 Personen Publikum und Presse zugelassen werden. Internationale Beobachter, deren Zulassung die Außenminister der EU im Februar gefordert hatten, dürfen an dem Prozeß nicht teilnehmen.
Die Beschränkung der Zuschauerzahl führt zu wütenden Protesten des Publikums, dessen Zorn sich schließlich wieder gegen die Verteidiger richtet, die im Laufschritt, mit geducktem Oberkörper, die Aktentasche über dem Kopf, durch einen Polizeikordon den Gerichtssaal verlassen. Später berichten die Anwälte, sie seien auch von den Polizisten, die sie zu ihrem Schutz abgetrennt hatten, getreten und mit Polizeiknüppeln geschlagen worden und man habe sie unter Drohungen aufgefordert, einen Marsch zu singen. Die Polizei habe sie schließlich in ein anderes Viertel gebracht und Passanten mit den Worten »das sind Apos Anwälte« auf sie gehetzt.