„Politisch und moralisch hat die Nato verloren“
Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow dringt
auf politische Kosovo-Lösung Kritik an Milosevic Ein WELT-Gespräch
Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow betrachtet
die Bombenangriffe der Nato auf Jugoslawien als falsches Mittel, mit dem
ein durchaus richtiges Ziel verfolgt wird. Er fordert ein Ende der Luftangriffe
und die Rückkehr zu diplomatischen Lösungsversuchen unter Führung
der Vereinten Nationen.
Gleichzeitig setzt er sich für die Erhaltung der partnerschaftlichen
Beziehungen Rußlands zur Nato und den USA ein. Mit Michail Gorbatschow
sprach Manfred Quiring.
DIE WELT: Die Nato bombardiert Jugoslawien, um, wie sie sagt, eine menschliche
Tragödie im Kosovo zu verhindern. In Rußland wird das eine Aggression
genannt. Wie sehen Sie das?
Michail Gorbatschow: Wir sprechen davon, daß das höchste
Gut die Freiheit und die Menschenrechte sind. Wir berufen uns dabei auf
internationale Dokumente, vor allem auf die Menschenrechts-Charta. Nach
dem Ende des Kalten Krieges wollen wir die Menschenrechte schützen,
das Leben und die Freiheit des Menschen. Doch erlauben Sie mir zu fragen,
wie kann man ein richtiges Ziel, ich wiederhole: ein richtiges Ziel, erreichen
wollen, indem man das Völkerrecht verletzt? Wo ist das Mandat? Wie
Ihr Landsmann, mein alter Bekannter und Freund Oskar Lafontaine, am 1.
Mai sagte man hat sich das Mandat angeeignet, sich selbst „mandatiert“.
Das heißt, und so sehe ich das, man hat sich das Recht auf Verurteilung
und Vollstreckung zugleich angeeignet. Und das geht über den Rahmen
dieses Konfliktes weit hinaus.
DIE WELT: Doch zunächst geht es doch um die Menschen im Kosovo?
Gorbatschow: Im Kosovo, in Jugoslawien haben wir es mit einem großen
Drama zu tun, einem menschlichen Drama. Wir können nicht damit einverstanden
sein, daß man Menschen in eine Situation bringt, in der sie gezwungen
sind, alles stehen und liegen zu lassen, um das eigene und das Leben ihrer
Kinder zu retten. Hier hat Milosevic eine gewaltige Verantwortung. Denn
1989 hat er dem Volk die Autonomie genommen. Und das gebar die Ungewißheit
und Instabilität. Auch wenn dies in einer Situation geschah, in der
Jugoslawien zerfiel, in der die westlichen Staaten übereilt Slowenien
und Kroatien anerkannten und damit den Prozeß beschleunigten, rechtfertigte
dies nicht seine Entscheidung. Und in all den Jahren danach fand er keine
Mittel, die Situation mit politischen Mitteln zu bereinigen. In den letzten
Jahren ist ein weiteres Element hinzugekommen. Die Befreiungsarmee des
Kosovo erschien auf dem Plan. Sie begann sich zu bewaffnen. Woher hat sie
die Waffen? Aus Albanien, vom Westen, aber nicht aus Rußland. Doch
damit geriet der Konflikt in eine neue Phase der Konfrontation. Die Antwort
darauf waren zunächst polizeiliche Maßnahmen, später wurde
Militär eingesetzt. Ich möchte nicht zynisch werden, aber damals
zählten die Opfer nach Dutzenden.
War das der Moment, in dem wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft
hatten und die Bombenangriffe begonnen werden mußten? Ich sage nein.
Während damals Hunderte oder sogar Tausende Menschen flohen, sind
es inzwischen Hunderttausende geworden. Albaner, aber auch Serben. Die
Bombenangriffe haben die Eskalation eröffnet.
DIE WELT: Meinen Sie nicht, daß die Geduld gegenüber einem
Mann, den europäische Politiker lieber als Kriegsverbrecher anklagen
würden, ihre Grenzen hat?
Gorbatschow: Wenn man Milosevic die Rechnung präsentieren will,
dann muß ebenfalls geklärt werden, wem man sie in der Nato präsentiert.
Denn das Recht ist gebrochen worden, es findet eine Aggression statt. Milosevic
ist in ordentlichen Wahlen zum Präsidenten bestimmt worden. Der oppositionelle
Vuk Draskovic ist sogar in die Regierung eingetreten. Glauben Sie, daß
der Sprung aus einem totalitären Regime in die Demokratie so leicht
ist? Ich glaube, das deutsche Beispiel zeigt das sehr deutlich. Im übrigen
muß ich sagen, daß der Westen sehr zynisch handelt. Nehmen
wir zum Beispiel die Türkei: Dort existiert ein scharfer innerer nationaler
Konflikt, militärische Kräfte werden eingesetzt, Hunderttausende
Kurden haben ihre Heimat verlassen. Darauf reagieren weder Nato noch Sicherheitsrat.
Ein anderes Beispiel Kolumbien. Dort sterben jedes Jahr mehrere tausend
Menschen. Die Zahl der Flüchtlinge übersteigt eine Million. Aber
die Machthaber des Landes unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu
Washington. Oder schauen Sie nach Nordirland. Dort versucht man nun schon
seit 25 Jahren, zu einer gewaltlosen Lösung zu kommen. Und das ist
richtig so, obwohl die Zahl der Opfer schon die 3000 überschritten
hat. Die Geduld reicht seit 25 Jahren, warum in anderen Fällen nicht?
DIE WELT: Wie würden Sie Ihre Frage selbst beantworten?
Gorbatschow: Ich glaube, es hat ein Wechsel in der Strategie stattgefunden.
Vor zehn Jahren hatte die Perestroika den Weg für den politischen
Fortschritt in der Sowjetunion geöffnet. Das Vertrauen zwischen Ost
und West nach dem Ende des Kalten Krieges wuchs besonders im Zusammenhang
mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Damals stand die Aufgabe, die Vereinigung
Deutschlands mit dem europäischen Prozeß zu synchronisieren.
Der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Waffen in Europa
wurde unterzeichnet, Nato und Warschauer Vertrag begannen, sich in politische
Organisationen umzuwandeln. Auf einem Gipfeltreffen in der französischen
Hauptstadt wurde 1990 die Pariser Charta unterzeichnet. Ein Dokument für
die Schaffung eines Systems der Zusammenarbeit, aber vor allem zur Herausbildung
einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Alles bewegte sich
in diese Richtung.
DIE WELT: Daß vieles davon überholt ist, liegt doch aber
auch daran, daß es den Warschauer Pakt, die Sowjetuniuon nicht mehr
gibt?
Gorbatschow: Kaum existierte die Sowjetunion nicht mehr, begannen neue,
verantwortungslose geopolitische Spiele. Der Westen und vor allem Amerika
wollten die Situation ausnutzen, um Fisch im schmutzigen Wasser zu fangen.
Im vergangenen Jahr trat ich anläßlich des 75jährigen Jubiläums
von „Time Magazine“ zusammen mit Clinton auf. Der amerikanische Präsident
sagte in seiner Rede unter anderem: „Das 20. Jahrhundert ist zum Jahrhundert
Amerikas geworden. Mit Gottes Hilfe müssen wir alles tun, damit auch
das 21. Jahrhundert amerikanisch wird.“ Aus dieser Philosophie geht die
Politik hervor, wie wir sie gegenwärtig erleben. Es ist der Anspruch
auf Weltherrschaft, der übrigens auch den erstarkenden Europäern
ihren Platz zuweist: Ja, ihr seid eine wirtschaftliche Macht, aber in politischer
Hinsicht seid ihr Zwerge. Ich glaube, die Weltherrschaftsambitionen sind
als Utopie noch schlimmer als die kommunistische. Für diese Utopie,
durch den Kommunismus alle glücklich zu machen, haben wir bereits
teuer bezahlt.
DIE WELT: Wie sehen Sie in der gegenwärtigen Situation die Rolle
der russischen Außenpolitik?
Gorbatschow: Rußland als Mitglied des Sicherheitsrates ist mitschuldig
an der Krise auf dem Balkan. Es hätte eine stärkere präventive
Rolle spielen müssen, um zu verhindern, daß die Krise diese
Ausmaße annimmt. Auch hat Rußland seine Möglichkeiten
nicht genutzt, einen intensiven Dialog mit der jugoslawischen Führung
zu führen.
DIE WELT: Meinen Sie nicht, daß Präsident Jelzin mit der
Ernennung von Wiktor Tschernomyrdin zum Sonderbeauftragten neue Akzente
gesetzt hat?
Gorbatschow: Ich teile den Standpunkt des Präsidenten nicht, der
das Gespann PrimakowIwanow gegen Tschernomyrdin ausgetauscht hat.
Das sind alles Intrigen in der oberen Etage der Macht: Jelzin ist nach
seiner Krankheit in den Kreml zurückgekehrt und mußte feststellen,
daß ihm nur noch zwei Prozent der Bevölkerung vertrauten. Primakow
dagegen lag bei 63 Prozent. Also installiert er Tschernomyrdin, ernennt
Stepaschin zum Ersten Vizepremier. Aber das sind doch alles Dummheiten.
Der Präsident beschäftigt sich mit Intrigen, während Rußland
eine seriöse Politik braucht. Und wenn jetzt über die Entlassung
des Regierungschefs spekuliert wird, kann ich nur sagen: Primakow und seine
Regierung, die das Land sowohl vor den extremen Liberalen als auch vor
den fundamentalistischen Kommunisten bewahren, müssen im Amt bleiben.
DIE WELT: Michail Sergejewitsch, wenn Sie heute mit dem Abstand von
zehn Jahren auf den Vereinigungsprozeß und andere Ihrer damaligen
Entscheidungen zurückblicken, was würden Sie heute anders machen?
Gorbatschow: Ich glaube, wir sind damals den richtigen Weg gegangen.
Die Vereinigung Deutschlands, die Beendigung des Kalten Krieges, der Weg
in Richtung Demokratie und Freiheit das alles war nötig, und
ich bleibe Optimist. Es ist der Westen, der diesen Weg verlassen und seine
Strategie geändert hat. Es ist an der Zeit, zur Ausgangslage zurückzukehren,
zur Politik der gleichberechtigten Zusammenarbeit.
DIE WELT: Wie stellen Sie sich das praktisch vor?
Gorbatschow: Insgesamt wird es schwierig sein, zur Ausgangslage vor
dem 23. März zurückzukehren. Politisch und moralisch haben die
Nato und die USA bereits verloren. Doch gerade in dieser Situation sollte
nicht alles, was bisher erreicht wurde, in Bausch und Bogen verworfen werden.
Die partnerschaftlichen Kontakte müssen erhalten werden, es sollte
alles getan werden, um zu helfen, damit die USA und Europa einen Ausweg
aus der Sackgasse finden. Es muß der Weg zur Gestaltung neuer, wohlmeinender
Kooperationsbeziehungen beschritten werden. Hier gibt es große Möglichkeiten
sowohl für Rußland als auch für die Europäer, ja,
auch für die USA. Wir besitzen gewaltige Ressourcen, ein Volk, das
bereit ist, neue Technologien und ganze Modernisierungsprogramme umzusetzen.
DIE WELT: Und konkret in der Jugoslawien-Frage?
Gorbatschow: Auf einem Treffen der Friedensnobelpreisträger Ende
April in Rom haben wir uns für die sofortige Beendigung der Militäraktion,
die Wiederherstellung des Autonomiestatus für den Kosovo, die Rückkehr
der Albaner und die Stationierung internationaler Kräfte ausgesprochen.
Der gesamte Prozeß der politischen Regelung muß von nun an
unter der Ägide der UNO und auf der Grundlage von Beschlüssen
des Sicherheitsrates stattfinden. Dazu wäre eine internationale Konferenz
nötig, wie sie von den Italienern und den Deutschen vorgeschlagen
worden ist. Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß europäische
Fragen ohne Rußland lösbar sind. Es wäre ebenso eine Fehlkalkulation
zu glauben, ein schwaches Rußland könne in die Ecke gedrängt
werden. Ich habe immer gesagt: Es gibt kein freies, sicheres Europa ohne
Rußland und noch viel weniger gegen Rußland, es geht aber auch
nicht ohne die USA und noch viel weniger gegen die USA.
DIE WELT: Auch zehn Jahre nach der Vereinigung ist in Deutschland die
Frage nach den Enteignungen zwischen 1945 und 1949 in der sowjetischen
Besatzungszone ein brisanter Streitpunkt geblieben. War das Festschreiben
dieser Enteignungen tatsächlich die Bedingung für die Zustimmung
der Sowjetunion zur Wiedervereinigung, wie es die Kohl-Regierung behauptete,
oder wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?
Gorbatschow: Diese Frage wurde im Kontext mit der Vereinigung nicht
als unbedingte Voraussetzung aufgeworfen. Modrow hatte sie zwar bei unserer
Begegnung am 6. März in Moskau angesprochen, ich reagierte indes nicht
darauf. Modrow hat sich dann am 7. März 1990 in einem Brief zu diesem
Thema an mich und an Kohl gewandt. Als Antwort darauf gab die sowjetische
Regierung am 28. März eine Erklärung ab. Darin wurde gesagt,
daß die Sowjetunion gegen die Versuche sei, dieses Eigentum im Falle
der deutschen Vereinigung in Frage zu stellen. Die Sowjetunion teile vielmehr
den Standpunkt der DDR-Regierung über die Notwendigkeit des Schutzes
der sozial-ökonomischen Rechte und Interessen von Millionen Bürgern
der DDR.
DIE WELT: Läßt sich daraus nicht eine deutliche Forderung
der sowjetischen Seite herauslesen, die unter den obwaltenden Umständen
als Bedingung hätte aufgefaßt werden können?
Gorbatschow: Unser Standpunkt war unzweideutig. Wir gingen davon aus,
daß die DDR in den Verhandlungen mit den Vertretern der Bundesrepublik
auf ihrer Position bestehen wird. Wir, die sowjetische Regierung, fixierten
unsere Unterstützung für die DDR-Position. Doch nirgendwo in
dem Dokument findet sich auch nur eine Anspielung darauf, daß wir,
sollte die Führung der Bundesrepublik diese Position zurückweisen,
den Vereinigungsprozeß sprengen würden. Das wäre einfach
absurd gewesen.
DIE WELT: Michail Sergejewitsch, im kommenden Jahr werden planmäßig
Präsidentschaftswahlen in Rußland abgehalten.
Werden Sie noch einmal kandidieren?
Gorbatschow: Darauf kann ich nur mit einem einzigen Wort antworten.
Nein.