Todesstrafe wahrscheinlich
Anwalt von PKK-Chef Öcalan im Abgeordnetenhaus
Selim Okcuoglu, einer der Anwälte von PKK–Chef Abdullah Öcalan,
hat der Bundesregierung vorgeworfen, sie zeige bei Menschenrechtsverletzungen
in der Türkei keinerlei Reaktion. Für eine dringend nötige
Korrektur der deutschen Außenpolitik – auch im Hinblick auf das „Unrechtsverhalten
der Türkei“ vor Beginn des Öcalan-Prozesses am 31. Mai –gebe
es bisher keine Anzeichen, sagte der Anwalt, der auf Einladung der Fraktionen
der PDS und Bündnis 90/Die Grünen nach Berlin gekommen war. Okcuoglu
forderte von der internationalen Staatengemeinschaft, verstärkt Druck
auf die Türkei auszuüben, um einen fairen Prozeß zu ermöglichen
und die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Gleichwohl zeigte sich
der Anwalt überzeugt, daß das Sicherheitsgericht „kaum“ zu einem
anderen Urteil als der beantragten Todesstrafe kommen werde.
Der Staatsanwalt wirft Öcalan, der Mitte Februar in Kenia festgenommen
worden war und seitdem auf der Insel Imrali im Gefängnis sitzt, vor,
kurdische Gebiete aus der türkischen Verwaltung herauslösen zu
wollen. Aufgrund dieses politischen Vergehens wurde die Todesstrafe gefordert.
Okcuoglu, der Öcalan am 16. März zuletzt gesehen hat und sich
seitdem im Ausland aufhält, sprach von zahlreichen und schweren Verletzungen
fundamentaler Rechtsgrundsätze und des Rechts der Verteidigung durch
türkische Behörden. So sei Öcalan unter „schweren physischen
und psychischen Folterbedingungen verhört“ worden und befinde sich
seither in „Isolationshaft“, wo ihm die Möglichkeit, Zeitung oder
Bücher zu lesen und Radio zu hören, verwehrt werde.
Auch sei es unmöglich, eine Verteidigungsstrategie aufzubauen.
Treffen der 21 Anwälte Öcalans mit ihrem Mandanten seien nur
unter strenger Aufsicht möglich. Die Anwälte würden stets
genau kontrolliert, es sei ihnen verboten, irgendwelche Gegenstände
– Stifte, Papier, Gesetzestexte –mitzubringen. So wollen die Anwälte
zwar ihr Mandat nicht niederlegen, aber auch an der „Inszenierung eines
Theaterspektakels“ nicht teilnehmen. Die Anwälte würden von offizieller
Seite und von den türkischen Massenmedien zu „Schuldigen“ gestempelt,
sagte Okcuoglu. Mit Brief- und Telephonterror werde versucht, psychischen
Druck auszuüben. Am 30. April seien sechs der Anwälte in Ankara
von einer aufgebrachten Menge verprügelt worden.
Das Urteil Todesstrafe stehe bereits fest, vermutet der Anwalt. Zwar
sei seit 1984 vom Parlament die Vollstreckung dieser Strafe nicht mehr
gebilligt worden, doch stimme die Anwälte das Ergebnis der Parlamentswahlen
vom 18. April mit einem Machtzuwachs rechter und links-nationalistischer
Parteien „pessimistisch“. Die Billigung eines Todesurteils wäre jedoch
nach Einschätzung von Okcuoglu eine „Dummheit“. Bereits jetzt herrsche
große Unruhe unter den Kurden, die sich von der internationalen Staatengemeinschaft
alleingelassen fühlten. Der Tod von Öcalan würde unweigerlich
zu einer weiteren „Forcierung der Gewalt“ führen.
Robert Probst