Türkei: Veteranen berichten erstmals offen über den Krieg
gegen die PKK
Die verlorenen Seelen der „Köpfe-Sammler“
Ein Buch über die traumatischen Erlebnisse der Soldaten kratzt
am Mythos von der heldenhaften türkischen Armee
Von Wolfgang Koydl
Istanbul, 18. Mai – Sie werden geschüttelt von panischer Angst,
sie flüchten in Drogen, sie werden von Vorgesetzten geprügelt
und sind selbst zu unbeschreiblichen Grausamkeiten bereit. Doch wenn sie
daheim ihren Familien, Freunden und Verwandten von ihren traumatischen
Erlebnissen berichten wollen, stoßen sie auf eine undurchdringliche
Mauer aus Ablehnung und Desinteresse: Was amerikanische GI’s in Vietnam
und russische Soldaten in Afghanistan erlitten haben, durchleben auch türkische
Wehrpflichtige im Krieg im kurdischen Südosten. Doch anders als in
den USA oder in der Sowjetunion waren die Ängste, Nöte und Probleme
der türkischen Wehrpflichtigen immer ein Tabu, an das niemand zu rühren
wagte. Nun haben zum ersten Mal seit Beginn der Kämpfe vor 15 Jahren
42 Soldaten und Unteroffiziere ihr Schweigen gebrochen und ungeschminkt
über den Krieg gegen die separatistische „Arbeiterpartei Kurdistans“
(PKK) gesprochen.
Die Journalistin Nadire Mater hat ihre Erzählungen zusammengefaßt
und unter dem Titel „Mehmets Buch“ in Istanbul veröffentlicht. „Mehmetcik“,
„kleiner Mehmet“, heißen die türkischen Wehrpflichtigen im Volksmund.
Nadire Maters Gespräche mit den Soldaten sind chronologisch angeordnet:
Der erste Kriegsveteran war schon bei den bewaffneten Zusammenstößen
1984 dabei, der letzte leistete noch im Mai vergangenen Jahres seinen Wehrdienst
ab. Insgesamt, so schätzt Frau Mater, sollen 2,5 Millionen türkischer
Männer an die Front im Südosten geschickt worden sein.
„Mehmets Buch“ ist von enormer Sprengkraft, kratzt es doch am bislang
gepflegten Bild von der heldenhaften türkischen Armee, die in aufopferungsbereiter
Pflichterfüllung das Vaterland vor den terroristischen Banden beschützt.
Doch in den Gesprächen ist die Rede davon, daß Offiziere zu
den Kriegsgewinnlern zählen und bei Heroinschmuggel „die Augen zudrücken“;
und es werden Absprachen zwischen Militär und Freischärlern genannt,
wonach nur die Söhne armer Familien an die Front geschickt werden,
und die Zivilbevölkerung mißhandelt und so der PKK in die Arme
getrieben wird.
Viele befragte Soldaten, die allesamt anonym bleiben wollten, äußerten
zudem Zweifel am Sinn des Krieges. „Warum dieser Krieg?“, fragt ein heute
25-jähriger aus Izmir. „Auf den Bergen kämpfen Leute (PKK-Freischärler),
die an ihre Ziele glauben.“ Ein anderer, der in Diyarbakir, der Hauptstadt
des Südostens, stationiert war, pflichtet ihm bei: „Ich weiß
nicht, wofür wir kämpfen.
Gegen wen richten wir unsere Waffen? Er hat einen Grund in die Berge
zu gehen. Aber warum gehe ich zur Armee?“ Angst ist der ständige Begleiter
auch der türkischen Soldaten. „Im Schlaf stirbst du“, erinnert sich
ein „Mehmetcik“. „Die neuen steckten sich nachts den Walkman ins Ohr und
konnten natürlich nichts hören. Am Morgen sahen wir sie mit durchgeschnittenen
Kehlen.“
Von Angst ist die Rede, aber auch von Wut, wenn ein Kamerad gefallen
ist: „In dem Moment denkst du keinen Moment, wer vor dir steht, Tier oder
Mensch – du machst ihn fertig“, berichtet ein Soldat. „Dort endet die Menschlichkeit“,
erzählt ein anderer, der in den Kommandoeinheiten diente. „Man ist
wie ein wildes Tier. Wer dir vor die Augen tritt, den tötest du, ohne
mit der Wimper zu zucken. Jeden Tag siehst du Leichen, alle Arten von Folter,
wie man Menschen verbrennt, einfach alles.“
Durch besondere Grausamkeit zeichnen sich nach den Berichten der Veteranen
die Angehörigen der „Özel Tim“ aus.
Diesen Spezialeinheiten gehören oft Mitglieder rechtsextremer,
nationalistischer Banden an. „Köpfe sammeln“, nennen sie es,
wenn sie PKK-Kämpfer töten. Tatsächlich erhalten sie Kopfgeld
für jeden Toten. Außerdem ist es weit verbreiteter Brauch unter
ihnen, den Gefallenen die Ohren abzuschneiden. „Die Soldaten hatten etwas
Durchscheinendes in der Hand“, erinnert sich ein heute 30 Jahre alter Mann
an seine Militärzeit.
„Was ist das, fragte ich; sie hatten Schlüsselanhänger daraus
gemacht. Ohren, haben sie gesagt. Die abgeschnittenen Ohren legen sie in
Cola, da bleibt nur der Knorpel übrig.“
„ Die Behauptung, daß die Zivilbevölkerung die Armee unterstütze,
wird von den in „Mehmets Buch“ befragten Soldaten nicht gedeckt. „Das Volk
mag und will das Militär nicht“, sagt ein Mann aus Samsun an der Schwarzmeerküste.
„Mit ihren Blicken sagen sie: Geh aus meinen Augen oder stirb.“ Er hat
erlebt, daß die Bauern den Soldaten nicht einmal Wasser gaben. Einer
seiner Kameraden erinnert sich an einen Major, der seinen Leuten immer
wieder eingetrichtert habe: „Ihr sollt wie Terroristen sein, das Volk soll
Angst vor euch haben.“ In einem anderen Fall schnitt ein Unteroffizier
ein ganzes Dorf für drei Monate von der Wasserversorgung ab. Es war
die Strafe dafür, daß sich die Bauern bei seinem Vorgesetzten
beschwert hatten, weil er einen Hund erschossen hatte. Generell gelten,
so die Erzählungen der Veteranen, die Bauern automatisch als Helfershelfer
der PKK: „Wenn ein Bauer fragt, warum es keine Straßen in seinem
Dorf gibt, wird er zum PKK-Militanten.“
Am schlimmsten empfinden die Soldaten jedoch die Entlassung aus dem
Wehrdienst und die Heimkehr. Viele fühlen sich allein gelassen mit
ihren Alpträumen und seelischen Störungen. „Seitdem ich
zurück bin, denke ich jedesmal gleich ans Erschießen, wenn ich
zornig bin“, gesteht einer. Ein anderer sagt, daß sein Vater
in Tränen ausgebrochen sei, „weil er mich nicht mehr erkannt hat“.
Besonders schmerzhaft ist, daß niemand mit den Veteranen über
ihre Erlebnisse sprechen will. Das Phänomen ist unter dem Namen
„Vietnam-Syndrom“ bekannt. In Amerika und später während Moskaus
Afghanistan-Abenteuers stand der Begriff für das stumme Eingeständnis
der Bevölkerung, daß die Soldaten in einem schmutzigen Krieg
gekämpft hatten, über den man nicht reden wollte.