Graue Wölfe in Siegerlaune
In der türkischen Stadt Afyon erhielt die MHP bei den Parlamentswahlen
im April dreißig Prozent der Stimmen. Die großen Parteien in
Ankara sind abgeschrieben.
Aus Afyon Jürgen Gottschlich
Die jungen Männer sind stolz darauf, Türken zu sein. Bereitwillig
posieren sie für ein Foto, zeigen ihren Wolfsgruß und strahlen
in die Kamera. Die fünf Studenten sind Mitglieder oder Sympathisanten
der Grauen Wölfe, der Jugendorganisation der Partei der Nationalen
Bewegung (MHP). Eigentlich wollten sie ihren gefallenen Kameraden ihre
Reverenz erweisen. Obwohl sie als Studenten vom Militärdienst zurückgestellt
sind, fühlen sie sich mit den Soldaten, die in ihrem Alter im Kampf
gegen die PKK gefallen sind, sehr verbunden. "Auf dieser Tafel", sagt Ahmet,
"könnte ich auch stehen." Er zeigt auf eine Liste der in den letzten
zehn Jahren gestorbenen jungen Männer. Es sind 159 aus der Stadt Afyon.
Im letzten Jahr hat der Gouverneur von Afyon auf einem Hügel vor
der Stadt ein martialisches Denkmal für diese Gefallenen aufstellen
lassen. Ein riesiger Soldat im Sturmschritt, sein Gewehr im Arm, flankiert
von zwei Löwen. Die fünf jungen Männer sind auf dem Weg
zu einem Konzert, das die MHP an diesem Abend veranstaltet. Obwohl es bereits
dunkel ist, wollten sie vorher noch einen Abstecher zu dem Denkmal machen.
Die MHP versteht sich als die Partei der gefallenen Soldaten und deren
Familien. "Wir werden gegen den Imperialismus kämpfen, dem diese Soldaten
zum Opfer gefallen sind" , sagt Sabri. "Wir werden unser Land verteidigen."
Für Ahmet, Mehmet, Özgur, Sabri und Eyüp ist die PKK
nicht einfach eine Terrororganisation, wie die türkische Regierung
behauptet. Sie ist eine von "den Feinden der Türkei gegründete
und ferngesteuerte Terrororganisation - die Griechen, die Syrer, die Russen
und auch die Europäer benutzen die PKK, um uns kleinzumachen". Davon
sind die fünf Studenten fest überzeugt. "Aber das wird
die MHP verhindern."
Die 159 Gefallenen aus Afyon sind viele im Vergleich mit anderen Städten.
Auch deshalb hat die MHP bei den Parlamentswahlen am 18. April in Afyon
fast 30 Prozent der Stimmen bekommen. "Praktisch aus dem Nichts",
wie Muzaffer Uyan kopfschüttelnd feststellt. Uyan ist Leiter des Kulturamtes
von Afyon und macht keinen Hehl daraus, daß ihn diese Entwicklung
ziemlich entsetzt. Seit dem Wahlabend grübelt er darüber
nach, wie das passieren konnte. "Sicher", sagt er, "es gibt viele Gründe.
Aber letztlich verstehe ich es doch nicht."
Afyon ist eine uralte Stadt. Von Westen, von der Ägäis kommend,
ist Afyon das Tor zur anatolischen Hochebene. So wie heute die Straße
von Izmir nach Ankara durch Afyon geht, war die Stadt schon seit Jahrhunderten
ein Knotenpunkt der west-östlichen Handelswege. Archäologische
Funde weisen auf eine Besiedelung weit über den Beginn der christlichen
Zeitrechnung hinaus. "Es gäbe hier so viel zu entdecken, aber wir
haben dafür kein Geld und keine ausgebildeten Leute", bedauert Muzaffer
Uyan den schmalen Kulturetat.
Dabei ist Afyon keine arme Stadt. In ihrem Einzugsbereich liegen die
größten Marmorbrüche des Landes, und die Landwirtschaft
ist ergiebig. 17 Prozent aller in der Türkei verzehrten Lebensmittel
kommen aus dem Raum Afyon. Aber auch in Afyon sind die Reichtümer
sehr ungleich verteilt. Zwei Drittel der Stadt wirken arm und heruntergekommen.
Seit Jahrzehnten ist Afyon eine Hochburg der Konservativen. Schon
in den fünfziger Jahren wurde hier die bürgerliche kapitalistische
Konkurrenz der Kemalisten, deren Nachfolgeorganisation die heutige DYP
ist, gewählt. "Aber seit Tansu Çiller Vorsitzende der DYP wurde,
hat die Partei sich um die Stadt nicht mehr gekümmert", kritisiert
Sürük Kücükkurt die heutige DYP-Führung. Kücükkurt
ist eine Institution in Afyon. Seit 35 Jahren gibt er die Kocatepe heraus,
eine lokale Tageszeitung.
Er kennt sich aus in seiner Stadt, und er weiß, wie die Leute
denken. Ihn hat es nicht so sehr überrascht, daß die MHP in
Afyon zur stärksten Partei wurde. DYP und Anap, die beiden konkurrierenden
rechten Parteien der bürgerlichen Mitte, seien für die Leute
einfach nicht mehr akzeptabel gewesen. "Die Abgeordneten haben sich hier
nicht mehr sehen lassen", erzählt er, "und vor allem ihre Versprechungen
nicht gehalten." Beide Parteien hätten den Kontakt zur Bevölkerung
verloren, und aus Ankara habe man nur noch von Korruptionsaffären
und gegenseitigen Beschuldigungen gehört. "Die Leute hatten die Nase
gestrichen voll."
Aber Afyon ist eben konservativ. "Ecevit ist für die Leute keine
Alternative, er ist der Repräsentant der Kemalisten." So haben sie
MHP gewählt. Der Zeitungsmann Kücükkurt kann das gut verstehen.
Er sagt es nicht, aber er hört sich so an, als habe er selbst auch
zu dieser Alternative gegriffen. "Die MHP hat sich verändert. Seit
dem Tod von Türkes vor zwei Jahren ist die MHP anders geworden."
In den Augen Kücükkurts und der meisten anderen konservativen
Wähler in Afyon hat die MHP ihr altes Image als neofaschistische Schlägerbande
erfolgreich verändert. "Die sind jung und unverbraucht", sagt ein
Barbier am Hauptplatz von Afyon, "nicht solche Sesselkleber wie die Etablierten
- die tun was für die Jugend", weiß er aus seiner eigenen Familie,
"deshalb haben auch viele Jugendliche MHP gewählt."
In Afyon hat offenbar tatsächlich die MHP als Partei gewonnen
und nicht einzelne ihrer Kandidaten. "Es ist das erste Mal, daß ein
Bürgermeister nicht aus Afyon ist. Hayrettin Barut, der neue MHP-Bürgermeister,
kommt ursprünglich aus Elazig", erzählt der Kulturamtschef. Auch
die drei Abgeordneten, die die MHP aus Afyon nach Anakara schicken wird,
sind nicht kraft ihrer Persönlichkeit oder ihres hohen Bekanntheitsgrades
gewählt worden. Einer von ihnen ist eigentlich aus Konya, ein anderer
erst vor wenigen Jahren aus Deutschland zurückgekehrt.
Aber sie sind geschickt ausgewählt. Der Mann aus Konya ist Professor,
Germanist. Er bildet Deutschlehrer aus. Der Rückkehrer ist Tierarzt
und deshalb für die Bauern in der Umgebung sowohl Autoritäts-
als auch Vertrauensperson. Außerdem kennt er die Sorgen und Nöte
der Bevölkerung genau. Seiner Meinung nach ist der Öcalan-Effekt
als Motiv für die Wahl der MHP drittrangig. Viel wichtiger sind die
materiellen Nöte der Bevölkerung und das Desinteresse der etablierten
Parteien an diesen Sorgen.
Zumindest was die Bauern in der Umgebung von Afyon angeht, hat er wohl
recht. In Ayazin sind keine Reichtümer zu entdecken. Die Häuser
sind aus groben, in Eigenarbeit behauenen Steinen gebaut und mit Lehm verputzt.
Nur ein Teil der Dächer ist mit roten Dachziegeln gedeckt, oft müssen
auch Wellpappe oder Gras reichen. Das Wasser wird aus einem Brunnen in
der Dorfmitte geschöpft, und der Wind treibt den Staub durch die ungepflasterten
Gassen. Auf dem Dorfplatz haben Gemüsehändler zwei ambulante
Verkaufsstände aufgebaut, andere Einkaufsmöglichkeiten gibt es
hier nicht.
Bis Afyon sind es 35 Kilometer, öffentliche Verkehrsmittel bis
zum Dorf existieren nicht, und private Autos sind selten in Ayazin.
"Wenn jemand krank wird oder einen Unfall hat, ist das sehr schlimm", sagt
Osman Özcelik, der lange Jahre Bürgermeister von Ayazin war.
"Seit ein paar Jahren haben wir noch nicht mal mehr eine Hebamme, obwohl
sie uns das bei der letzten Wahl fest versprochen haben."
Sie, das waren die Abgeordneten der Mutterlandspartei Anap, die das
Dorf bei den letzten Wahlen mehrheitlich gewählt hat. Jetzt hat die
MHP gewonnen. "Die MHP-Kandidaten waren oft hier, sie haben sich bekannt
gemacht. Es sind seriöse Leute", glaubt auch Mehmet Kaplan, der eigentlich
ein Anhänger der islamischen Fazilet ist.
Die Männerrunde auf dem Dorfplatz zeigt keine Scheu vor den Journalisten
aus dem Ausland. Als es anfängt zu regnen, wird das Gespräch
in das gemeinsame Gästehaus des Dorfes verlegt. Jeder sagt seine Meinung,
es wird offen diskutiert. "Wir haben einfach nicht mehr verstanden, was
die in Ankara machen", meint Osman Bay, "dieses Hin und Her, diese wüsten
Beschuldigungen und Prügeleien im Parlament, das war doch nicht mehr
auszuhalten."
Devlet Bahceli, der neue Vorsitzende der MHP, hat versprochen, daß
sich das mit dem Einzug seiner Partei ins Parlament ändern wird. "Wir
hoffen, daß er dieses Versprechen hält", sagt der Bauer Mehmet
Karahisarli. Der alte Mann ist der eifrigste Anhänger der MHP. "Alparsan
Türkes, der Ex-Oberst und Gründer der MHP, war ein Diktator,
den hätte ich nicht gewählt. Aber mit Bahceli hat die MHP sich
verändert." Die MHP, davon sind auch die übrigen Bauern in der
Runde überzeugt, ist in die Mitte gerückt. Aufrechte Nationalisten,
die hoffentlich ihre Versprechungen einhalten werden.
Afyon und seine Umgebung war schon immer besonders patriotisch. Am
Fuße des Kocatepe-Gebirges, im Tal von Afyon, fand im August 1922
die entscheidende Schlacht des Türkischen Befreiungskrieges statt.
Dort oben, zeigt Osman Bay beim obligatorischen Rundgang durchs Dorf auf
die andere Seite des Baches, dort oben lagen die Griechen. "Bis hierhin
waren sie gekommen." Von Afyon aus trieb die türkische Armee unter
Mustafa Kemal die griechischen Eroberer, die sich aus der Konkursmasse
des Osmanischen Reiches die gesamte Ägäis-Küste herausschneiden
wollten, zurück bis Izmir. Bis heute sind die Bewohner Afyons stolz
darauf. Doch Patriotismus macht nicht satt.
Am Rande von Ayazin liegen große Steinbrüche, in denen fast
alle jungen Männer des Dorfes beschäftigt sind. Die Familie Karakaya
bricht dort Steine auf eigene Rechnung. Sie haben auf Pump einen Lkw gekauft
und bezahlen jedes Jahr für ihre Lizenz rund 5.000 Mark an den Staat.
"Um eine Lkw-Ladung aus dem Berg herauszubrechen, brauchen wir mit sechs
Leuten zwei Tage", erzählt Celil Karakaya. Die Wagenladung wird für
ungefähr 20 Millionen Lira (rund 100 Mark) an ein Bauunternehmen in
Afyon verkauft. "Nach Abzug aller Unkosten bleiben für uns alle vielleicht
fünf Millionen übrig." Fünf Millionen, rund 25 Mark, geteilt
durch sechs Leute, für zwei Tage härteste Arbeit. "Ich hab auch
MHP gewählt", sagt Celil schulterzukkend, "aber nur, weil ein Freund,
der meinen Lkw repariert hat, mich darum gebeten hat. An unserer Situation
werden die auch nichts ändern."
Da sind die fünf Studenten von den Grauen Wölfen natürlich
ganz anderer Meinung. "Nach der Anbiederung an Europa, nach dem Umweg über
den Islam, kehrt die Türkei nun zu ihren Wurzeln zurück", beschreibt
Sa.bri, Student der Elektrotechnik, seine Hoffnung. "Ihr (Europäer)
braucht keine Angst vor uns zu haben", erklärt Ahmet, ebenfalls angehender
Naturwissenschaftler, großzügig. "Wir tun euch nichts, Europa
soll ins bloß in Ruhe
lassen. Wir wollen unsere Probleme, z.B. die PKK, nicht länger
mit europäischen Augen betrachten." Die fünf sehen sich nicht
ohne Grund als die Sieger der Zukunft. Über 50 Prozent der 2,5 Millionen
Erstwähler haben MHP gewählt.
"Die MHP hat sich verändert. Seit dem Tod von Türkes vor
zwei Jahren ist die MHP anders geworden" "Dieses Hin und Her, diese wüsten
Beschimpfungen und Prügeleien im Parlament, das war doch nicht mehr
auszuhalten"