Die europäische Dimension Ein Buch über die jüngere Geschichte der Kurden mit einem Beitrag von Abdullah Öcalan
Eigentlich wollte er kein weiteres Buch über die Geschichte der Kurden schreiben, so der im irakischen Teil Kurdistans geborene Journalist Namo Aziz. Schließlich seien die Kurden in den Augen der Europäer eher in der Welt von Fiktion und Märchen anzutreffen als in der Realität. Doch dann kam Abdullah Öcalan nach Rom und mit ihm erlangte die kurdische Frage europäische Dimensionen. Aziz besuchte im November 1998 im Auftrag des Spiegel Öcalan in Rom und ist erstaunt, einen »Weltpolitiker« vor sich zu sehen, der sich nur für ein Ziel einsetzt: Frieden für die Kurden. Der Journalist beschließt, den Friedensprozeß mit einem Buch zu unterstützen. Öcalan ist begeistert und steuert einen längeren autobiographischen Beitrag bei. Noch während das Buch in Arbeit ist, wird Öcalan aus Europa vertrieben und vom türkischen Geheimdienst in die Türkei verschleppt. Als »Kurdistan und die Probleme um Öcalan« Mitte April erscheint, ist die staatlich geplante Ermordung Öcalans beschlossene Sache.
Das immer wieder enttäuschte Vertrauen der Kurden auf Europa, an dem zuletzt auch Öcalan scheiterte, zieht sich wie ein roter Faden durch Namo Aziz' Schilderung der kurdischen Geschichte. Immer wieder fielen die Kurden auf die Versprechen der Europäer herein, ihnen einen eigenen Staat zuzugestehen. Im Vertrag von Sèvres 1920 redeten die europäischen Kolonialmächte noch von einem kurdischen Staat, um die mesopotamischen Ölfelder vom Osmanischen Reich abzutrennen. Doch dieselben Mächte stimmten drei Jahre später der Vierteilung Kurdistans im Abkommen von Lausanne zu. Wieder zählte der Zugriff auf die Rohstoffe mehr als die nationalen Rechte des kurdischen Volkes.
Detailliert beschreibt Aziz die Geschichte der Kurden in der Türkei, Iran, Irak und Syrien. Bei allen Unterschieden der weiteren Entwicklung verbindet sie die Erfahrung von Unterdrückung und Völkermord, aber auch die Tradition des Widerstandes. Immer scheitert die Befreiung des Landes daran, daß sich einzelne Stämme, Parteien oder Landesteile von einer der Besatzungsmächte mißbrauchen und gegen das eigene Volk aufhetzen lassen. Bis heute greift das Prinzip des »Teile und Herrsche«. »Durch die gesamte Geschichte der Kurden zieht sich ein grundsätzliches Problem: das des fehlenden Nationalbewußtseins. Vielleicht eines der größten Hindernisse auf dem Weg der Kurden zu einem Gefühl nationaler Einheit ist das tief in der kurdischen Gesellschaft verankerte Prinzip der Hierarchie«, klagt Aziz den kurdischen Feudalismus an. Er spricht aus Erfahrung, war doch auch sein Vater ein »Khan«, für den Kurdistan jenseits der Stammesgrenzen aufhörte.
In der Vergangenheit war Namo Aziz der PKK gegenüber distanziert aufgetreten. In PKK-nahen Kreisen galt er gar als Agent des BND. Mit diesem Buch zeigt Aziz nun deutliche Sympathien für die von Öcalan geführte Nationalbewegung. Den Erfolg der PKK erklärt er mit ihrem Kampf nicht nur gegen den Kolonialismus, sondern auch gegen den kurdischen Feudalismus: »Mit einer sozialistischen Zielsetzung als Programm proklamierte Öcalan Gleichheit unter den Mitgliedern, die diesen im ersten Moment sehr fremd vorkam. Von nun an spielte es keine Rolle mehr, ob ein anderes PKK-Mitglied aus einem verfeindeten Dorf oder einer verfeindeten Familie stammte. Öcalan machte den Mitgliedern der Partei klar, daß es etwas jenseits aller Feindschaften geben kann: das Bewußtsein einer einheitlichen kurdischen Nation, die geschlossen für ihre Freiheit kämpft.«
»Wenn Du leben willst, dann lebe in Freiheit«, hat Abdullah Öcalan seinen im römischen Exil verfaßten Beitrag überschrieben. In sehr persönlicher Weise und jenseits aller Verleumdungen, Heroisierungen und Legenden über seine Person schildert er seine Kindheit als Sohn armer Bauern in der kurdischen Provinz Urfa. Er beschreibt prägende Einflüsse auf seine Persönlichkeit wie seine Freundschaften mit den Kindern »verfeindeter« Familien und Prügeleien als von seiner Mutter geforderte Rache für erlittene Demütigungen durch andere Jugendliche. Sein zeitweiliges Engagement in der Moschee kommt ebenso zur Sprache, wie seine Studienzeit und der Eintritt in türkischen sozialistischen Gruppen. Öcalan schildert die Entstehung der PKK aus der Erfahrung heraus, daß auch die türkische Linke sich gegen die Kurden stellte. Er gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte und den Kampf der PKK.
Dieser erste Band der Reihe Krisen, Konflikte Kommentare der Edition Gallas hat sich zum Ziel gesetzt, politisches Geschehen in Krisengebieten sachlich zu beschreiben und zugleich durch den persönlichen Bericht von Betroffenen zu vermitteln. Diese Synthese ist hier gut gelungen. Zum Verständnis des Konflikts in Kurdistan und vor allem des Politikers und Menschen Öcalan, dessen Leben in türkischer Haft akut bedroht ist, ist dieses Buch unverzichtbar.
Nick Brauns
*** Namo Aziz: Kurdistan und die Probleme um Öcalan. Mit einem
Beitrag von Abdullah Öcalan. München 1999, Edition Gallas, 200
Seiten, DM 24,80